Überversorgung: unangemessene medizinische Leistungen
Bislang ist die Angemessenheit erbrachter medizinischer Untersuchungen wenig bis gar nicht untersucht worden. Daher widmeten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Prof. Dr. Verena Vogt an der TU Berlin zwischen 2020 und 2024 der Analyse unangemessener medizinischer Untersuchungen. Datengrundlage waren die Abrechnungsdaten der Techniker Krankenkasse zwischen 2018 und 2021. Zu den häufig erbrachten Leistungen, die untersucht wurden, gehörten unter anderem die Verschreibung von Antibiotika bei unkomplizierten Atemwegsinfekten, die Bestimmung von Tumormarkern ohne bestehende Krebsdiagnose oder auch die Messung der Schilddrüsenhormone fT3/fT4 bei Personen mit einer diagnostizierten Schilddrüsenunterfunktion.
24 Leistungen als unangemessen eingestuft
„Angesichts der knappen finanziellen und personellen Ressourcen im Gesundheitssystem wollten wir einen Bereich untersuchen, der bislang kaum wissenschaftlich analysiert wurde – die Überversorgung“, erläutert Prof. Dr. Verena Vogt. „Unser Ziel war es zu quantifizieren, wie viele Leistungen im deutschen Gesundheitssystem als Überversorgung gelten.“ Zunächst ermittelte das Team Leistungen via Literaturrecherche, die weltweit von Fachgesellschaften als unangemessen erachtet werden. Expertinnen und Experten reduzierten diese auf 24 Leistungen, die als relevant und in deutschen Krankenkassen als messbar bewertet wurden.
Neben den oben genannten gehörten auch folgende Untersuchungen dazu: die routinemäßige Verschreibung von Benzodiazepinen für Menschen über 65, Inhalationstherapie bei COPD ohne vorherige Bestätigung der Diagnose via Spirometrie, Verschreibung unwirksamer Medikamente wie ausgewählter Nootropika bei Alzheimer, Opiate bei Migräne und Kopfschmerzen, Untersuchung der Knochenmineraldichte in regelmäßigen Abständen, Elektrotherapie bei Wundliegegeschwür.
Bis zu 10,4 Prozent der Leistungen seien unangemessen
Es ergab sich, dass jährlich 4 bis 10,4 Prozent der Leistungen als medizinisch unangemessen anzusehen sind – ein Kostenfaktor von 10 bis 15 Millionen Euro. Beispielsweise gab es jährlich 200.000 bis 300.000 Fälle, bei denen eine Schilddrüsenunterfunktion bereits mittels des TSH-Werts ermittelt worden war und dennoch die Schilddrüsenhormone fT3/fT4 bestimmt worden sind – ohne weitere diagnostische Erkenntnisse liefern zu können. Allein für diese unnötigen Laborbestimmungen hätten 2,15 Millionen Euro gespart werden können.
Ähnlich verhält es sich bei der Bestimmung von Tumormarkern ohne Krebsdiagnose. Diese werden eigentlich dafür genutzt zur Verlaufskontrolle, nicht zur Diagnose. „Dennoch identifizierten wir jährlich 50.000 bis 60.000 Fälle solcher Tests ohne bestehende Krebsdiagnose, wodurch vermeidbare Ausgaben von rund 520.000 Euro pro Jahr entstanden“, so Carolina Pioch, wissenschaftliche Mitarbeiterin.
Durch unvollständige Daten ergibt sich diese Spanne der Fallzahlen, da in diesen Fällen schwierig zu unterscheiden war zwischen angemessen und unangemessenen Untersuchungen. Die Forschenden sehen die aktuelle Studie nur als Impulsgeber, diesen Bereich der Überversorgung in Deutschland weiter zu erforschen. Die Untersuchung bestätigt die Annahme, dass Deutschland eines der teuersten, jedoch nicht eines der effizientesten Gesundheitssysteme hat. Ganz davon abgesehen, dass die Überversorgung auch gesundheitliche Risiken für die betroffenen Patientinnen und Patienten birgt.
Quelle: idw
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