Schätzungen zufolge sterben allein in den USA jedes Jahr 250.000 Menschen an vermeidbaren medizinischen Fehlern. Viele dieser Fehler entstehen während des Diagnoseprozesses. Ein wirksamer Ansatz zur Erhöhung der Diagnosegenauigkeit besteht darin, die Diagnosen mehrerer Diagnostiker zu einer gemeinsamen Lösung zu kombinieren. In der allgemeinen medizinischen Diagnostik fehlt es jedoch an Methoden, um unabhängige Diagnosen zusammenzufassen. Forscherinnen und Forscher des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, des Institute for Cognitive Sciences and Technologies (ISTC) und der Norwegian University of Science and Technology haben nun eine vollautomatisierte Lösung vorgestellt, die Methoden des Knowledge Engineering nutzt.
Diagnosegenauigkeit deutlich erhöht
Sie testeten ihre Lösung an 1.333 medizinischen Fällen, die vom The Human Diagnosis Project (Human Dx) zur Verfügung gestellt wurden, wobei jeder Fall von zehn Diagnostikern unabhängig begutachtet wurde. Die kollektive Lösung erhöhte die Diagnosegenauigkeit erheblich: Einzelne Diagnostiker erreichten eine durchschnittliche Genauigkeit von 46 Prozent.Die Zusammenführung der Entscheidungen von zehn Diagnostikern erhöhte diese auf durchschnittlich 76 Prozent. Die Verbesserungen traten über alle medizinischen Fachgebiete, Hauptbeschwerden und Erfahrungsstufen der Diagnostiker hinweg auf. „Unsere Ergebnisse zeigen das lebensrettende Potenzial von kollektiver Intelligenz”, sagt Erstautor Ralf Kurvers. Er ist Senior Researcher am Forschungsbereich Adaptive Rationalität des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und beschäftigt sich in seiner Forschung mit sozialer und kollektiver Entscheidungsfindung bei Mensch und Tier.
Herausforderung der Standardisierung
Es ist erwiesen, dass kollektive Intelligenz die Entscheidungsgenauigkeit in vielen Bereichen erhöht, zum Beispiel bei geopolitischen Prognosen, Investitionen und Diagnosen in der Radiologie oder Dermatologie (vgl. Kurvers et al., PNAS, 2016). Allerdings wurde die kollektive Intelligenz bisher meist auf relativ einfache Entscheidungsaufgaben angewandt. Anwendungen für komplexere Aufgaben, wie Notfallmanagement oder allgemeine medizinische Diagnostik, fehlen weitgehend, da es schwierig ist, nicht standardisierte Eingaben von verschiedenen Personen zu integrieren. Um diese Hürde zu überwinden, haben die Forscherinnen und Forscher in ihrer Anwendung semantische Wissensgraphen, natürliche Sprachverarbeitung und die medizinische Ontologie SNOMED CT – eine umfassende, mehrsprachige klinische Terminologie – zur Standardisierung eingesetzt.
Aggregations- und Bewertungsverfahren vollständig automatisiert
„Ein wesentlicher Beitrag unserer Arbeit besteht darin, dass die von Menschen erstellten Diagnosen zwar ihre Vorrangstellung behalten, unsere Aggregations- und Bewertungsverfahren jedoch vollständig automatisiert sind, wodurch mögliche Verzerrungen bei der Erstellung der endgültigen Lösung vermieden werden und eine höhere Zeit- und Kosteneffizienz möglich ist“, fügt Mitautor Vito Trianni vom Institute for Cognitive Sciences and Technologies (ISTC) in Rom hinzu. Die Forscherinnen und Forscher arbeiten derzeit – zusammen mit anderen Partnern – im Rahmen des HACID-Projekts daran, ihre Anwendung dem Markt einen Schritt näher zu bringen. Im Rahmen des von der EU finanzierten Projekts wird ein neuer Ansatz erforscht, der menschliche Expertinnen und Experten sowie KI-gestützte Wissensrepräsentation und automatisierte Schlussfolgerungen zusammenbringt, um neue Werkzeuge für die Entscheidungsfindung in verschiedenen Bereichen zu schaffen. Die Anwendung der HACID-Technologie auf die medizinische Diagnostik stelle eine der vielen Möglichkeiten dar, wie von einem digitalisierten Gesundheitssystem und zugänglichen Daten profitiert werden könne.
Quelle: idw/MPI für Bildungsforschung
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