Kommentar: Übersterblichkeit, COVID-19 und Long COVID
In Australien macht bereits der Begriff „Goldilocks Virus“ die Runde, also das Idealbild eines Virus, das gerade noch mild und übertragbar genug ist, um es weiterzuverbreiten, aber gleichzeitig trotzdem noch so viele schwere Fälle verursachen kann, dass es zu größeren Problemen führen könnte. Über die Ursachen der Übersterblichkeit, die in vielen Ländern zu beobachten ist, wurde und wird viel diskutiert, auch in Downunder. Die COVID-19 Mortality Working Group in Australien hat sich die Daten genauer angesehen. In den ersten drei Monaten 2023 lag die Übersterblichkeit demnach in Downunder bei 6 Prozent. Etwas mehr als die Hälfte davon wird direkt auf COVID-19 zurückgeführt und nochmals ein Teil auf Tote, die mit COVID-19 in Verbindung stehen. Nach den ersten Schätzungen für April und Mai wird erwartet, dass die Übersterblichkeit zwischen 7 und 8 Prozent (April) und 8 bis 10 Prozent (Mai) liegen dürfte.
Übersterblichkeit auch bei den Jüngeren
In England ist sogar bei der Altersgruppe der 0-24-Jähringen inzwischen eine deutliche Übersterblichkeit zu sehen:
Beim CMI (Continous Mortality Investigation) des Institute and Faculty of Actuaries in UK wurde zwar berechnet, dass es im Januar 2023 (vermutlich durch die Influenza) zu einer nicht-COVID-bedingten Übersterblichkeit (in der Gesamtbevölkerung) kam, aber seit Februar sei die kumulierte Übersterblichkeit wieder mit COVID erklärbar. In der Kalenderwoche 24 beziffert der CMI Mortality Monitor die Übersterblichkeit für England und Wales auf 8 Prozent.
Gleichzeitig wurde in vielen Ländern auf fast alle Schutzmaßnahmen verzichtet und der Kompass steht auf Durchseuchung der gesamten Bevölkerung. Wie in solch einem Umfeld im Gesundheitswesen (Krankenhaus, Praxen, Zahnarzt) noch der eherne Grundsatz „Aegroti salus suprema lex“ (das Wohl des Patienten ist höchstes Gesetz) eingehalten werden soll, dürfte die Politik kaum sinnvoll erklären können. So gab es auch im NEJ einen Beitrag mit dem Titel „Strategic Masking to Protect Patients from All Respiratory Viral Infections“. Vor allem die vulnerablen Gruppen, die im Krankenhaus behandelt werden, werden als Grund genannt. Daneben führen die Autoren auch die nosokomialen Infektionen von anderen respiratorischen Viren wie Influenza, RSV oder Parainfluenza ins Feld. Dies werde unterschätzt, gerade bei den vulnerablen Gruppen. Mindestens ein Fünftel der im Krankenhaus erworbenen Pneumonien könnten eher auf Viren als auf Bakterien zurückgeführt werden.
Masken im Gesundheitssystem?
Für die Autoren macht vor diesem Hintergrund deshalb der Einsatz von Masken im Gesundheitssystem unverändert Sinn. Die Infektion von SARS-CoV-2, RSV, Influenza u.a. könne sowohl bei Besuchern als auch den Beschäftigten asymptomatisch verlaufen. Auch sei der Präsentismus unverändert zu beobachten, also der „Druck“ zum Erscheinen trotz Krankheitssymptomen. Studien hätten zudem gezeigt, dass Masken bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen zu einer Reduktion der nosokomialen respiratorischen Virusinfektionen von ca. 60 Prozent führe. Da es inzwischen eine deutliche Abneigung gebe, schlagen die Autoren zumindest vor, eine Maskenpflicht an die Situation der Virusübertragungen in der Community, am Arbeitsumfeld und am Risiko der Patienten zu orientieren.
Schutz der wertvollen Mitarbeiter
Allerdings geht es nicht nur um den Patientenschutz. Bei einer großangelegten Erhebung der British Medical Association (BMA) unter Ärzten in UK zeigte sich, dass ein Fünftel der unter Long COVID-Symptomen leidenden Ärzte entweder gar nicht mehr arbeiten konnten oder zumindest ihre Stunden reduziert haben, was natürlich die Probleme im Gesundheitswesen (neben den persönlichen finanziellen Problemen) weiter verschärft. Rund 60 Prozent der an der Umfrage teilnehmenden Ärzte teilten dem BMA mit, dass sich eine postakute COVID-Erkrankung auf ihre Fähigkeit zur regelmäßigen Ausübung alltäglicher Aktivitäten auswirke, und über ein Drittel (35 Prozent) der Ärzte betonten, dass sich die Krankheit negativ auf ihr soziales Leben ausgewirkt habe.
Zuverlässige Daten nötig
Die Berücksichtigung der Community beim Treffen von Maßnahmen (z.B. in den Kliniken) setzt jedoch voraus, dass es auch zuverlässige Daten zur Entwicklung der aktuellen Situation gibt. Und daran gibt es erhebliche Zweifel, schaut man sich die Testraten hierzulande an. Selbst in den Krankenhäusern wird nicht mehr regelmäßig getestet, um einen Überblick zu erhalten. Gleichzeitig zeigt z.B. das Dashboard der SentiSurv RLP-Erhebung (für Rheinland-Pfalz) zumindest in den erhobenen Regionen eine 14-Tage-Inzidenz von 322. Wenn man sich überlegt, wie im Vergleich die nicht lebensbedrohenden Kopfläuse behandelt werden (mit Benachrichtigungspflichten und Infektionsschutzregelungen), muss man sich schon fragen, wo die Prioritäten liegen.
Langfristige Folgen durch SARS-CoV-2
Zumal inzwischen klar ist, dass es durchaus langfristige Folgen für Infizierte geben kann. Viel wird unter dem Begriff Long COVID subsumiert. Derweil gibt es zahlreiche Studien, die auch z.B. Hirnveränderungen bei nur leicht Erkrankten finden. Auch gibt es immer wieder Bedenken, was SARS-CoV-2 mit dem Immunsystem „anstellen“ kann. Es scheint sich außerdem zu bestätigen, dass das Virus das Knochenmark beeinträchtigen kann. So wurden bei Autopsien Spike-Proteine im Schädel von Verstorbenen lange nach ihrer COVID-19-Infektion gefunden, was darauf hindeuten könnte, dass das Vorhandensein des Spike-Proteins zu langfristigen neurologischen Symptomen beitragen könnte.
Die Kosten sind enorm
Auch wenn derzeit so ziemlich alle Verantwortlichen nach der Vogel-Strauß-Politik vorgehen, gilt es, die neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen zu berücksichtigen. Denn die langfristigen Folgen in den Volkswirtschaften, die ohnehin schon unter Fachkräftemangel zu leiden haben, könnten enorm werden. So hat Prof. David Cutler aus Harvard für die USA eine aktualisierte Schätzung der Kosten für Long COVID veröffentlicht. Demnach schätzt er die Kosten (nur für die USA) auf die erstaunliche Summe von insgesamt 3,719 Billionen US-Dollar. Pro Kopf wären dies 11.189 Dollar bzw. 17 Prozent des 2019er Bruttoinlandsproduktes.
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