Vom Neuroblastom ist etwa eines von 100.000 Kindern pro Jahr betroffen. Hierzulande erkranken nach Angaben des Kinderkrebsregisters in Mainz etwa 150 Kinder jährlich neu an einem Neuroblastom. Damit macht diese Krebserkrankung etwa sieben bis acht Prozent aller Krebserkrankungen im Kindesalter aus. Sie entstehen unabhängig vom späteren klinischen Verlauf bereits im ersten Trimester der Schwangerschaft. Schon zu diesem Zeitpunkt entscheidet sich offenbar, ob sie sich später spontan zurückbilden oder aggressiv voranschreiten. Das hat ein Forscherteam vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und dem Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ) jetzt herausgefunden. Anhand der Entstehungsgeschichte der Krebszellen sollen sich auch Prognosen zum Krankheitsverlauf treffen lassen, zeigt die Studie anhand eines mathematischen Modells. Dies soll künftig helfen, die richtige Therapieentscheidung bei betroffenen Kindern zu treffen.
Extrem unterschiedlicher Krankheitsverlauf
Neuroblastome treten im Bereich der Nebennieren auf oder entlang der Wirbelsäule im Hals, Brustkorb oder Bauchbereich. Es entsteht aus entarteten, unreifen (embryonalen) Zellen des sogenannten sympathischen Nervensystems. Eine Besonderheit von Neuroblastomen ist ihr extrem unterschiedlicher Krankheitsverlauf: In einigen Fällen bildet sich der Tumor ohne jegliche Therapie komplett zurück. Bei etwa der Hälfte der Patienten kann jedoch auch eine hochintensive Therapie ein aggressives Wachstum nicht verhindern. Es gibt derzeit jedoch kein international anerkanntes einheitliches Verfahren, um Hochrisikopatienten bereits bei der Erstdiagnose zuverlässig von denen mit einem günstigen Krankheitsverlauf zu unterscheiden.
Weichen werden früh gestellt
„Bislang ging man davon aus, dass es sich dabei um ganz unterschiedliche Neuroblastom-Erkrankungen handelte“, sagt Thomas Höfer vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Das Team um die Forschungsgruppenleiter Höfer und Frank Westermann vom Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ) und DKFZ konnte jetzt erstmals zeigen, dass sowohl Neuroblastome von Hochrisikopatienten, als auch jene mit einem günstigen Krankheitsverlauf einen gemeinsamen zellulären Ursprung haben. Bereits in der Embryonalentwicklung während des ersten Drittels der Schwangerschaft beginnt die Zellteilung aus dem Ruder zu laufen und schon da werden offenbar die Weichen für einen günstigen oder aggressiven Verlauf bei Kindern gestellt, zeigt die vorliegende Studie.
Stammbaum der Neuroblastom-Entstehung rekonstruiert
Dafür entschlüsselten die Wissenschaftler/-innen das Tumorgenom von 100 Patientinnen und Patienten mit Neuroblastomen unterschiedlicher Stadien. Anschließend rekonstruierten sie anhand bestimmter Erbgutveränderungen die Entstehungsgeschichte der Tumoren. „Man geht davon aus, dass sich Erbgutveränderungen in unserem Genom zufällig und über die Zeit hinweg mit konstanter Geschwindigkeit wie Sand in einer Sanduhr anhäufen“, erklärt die Erstautorin der Studie Verena Körber aus der Arbeitsgruppe für theoretische Systembiologie von Thomas Höfer am DKFZ. „Das wird auch als molekulare Uhr bezeichnet und ist messbar. Mit Hilfe eines speziell dafür entwickelten mathematischen Modells konnten wir daraus einen Stammbaum der Neuroblastom-Entstehung rekonstruieren“, sagt Körber weiter.
Einteilung in zwei Kategorien
Der Stammbaum soll zeigen, zu welchem Zeitpunkt die Krebszellen ganz unterschiedliche Entwicklungswege einschlagen und welche genetischen Ereignisse dafür entscheidend sind. Durch die Korrelation der Ergebnisse mit dem klinischen Verlauf ließen sich die Neuroblastome in zwei Kategorien einteilen: Solche, in denen genetische Veränderungen bereits früh zum Tumorwachstum führen. „Paradoxerweise sind das die Tumoren mit einem günstigen Verlauf, auch wenn sie zunächst schneller wachsen. Aber es finden keine drastischen genetischen Ereignisse mehr statt, die den Krebszellen das Rüstzeug geben, langfristig unsterblich zu werden“, erläutert Westermann, Experte für kindliche Neuroblastome am KiTZ und DKFZ. „Außerdem werden sie aufgrund ihres frühen schnellen Wachstums in der Regel auch früher bei den Kindern erkannt.“
Selektionsdruck als Ursache?
Bei der zweiten Kategorie handele es sich um Neuroblastome, die erst später bösartig werden, dann aber aggressiv wachsen. Sie durchlaufen eine komplexere und langwierigere Evolution. Höfer sieht die Ursachen dafür darin, dass aufgrund der Zellumgebung oder interner genetischer Schäden die meisten dieser Neuroblastomzellen absterben: „Durch diesen Selektionsdruck entwickeln sie dann aber besonders aggressive Mechanismen, um dem Zelltod dauerhaft zu entgehen und unendlich teilungsaktiv zu bleiben. Bis es soweit ist, bleiben die Tumoren aber erst einmal klein und werden daher leider auch erst später diagnostiziert.“
Mathematische Modelle könnten helfen
An mathematischen Modellen der Krebsevolution wird derzeit auch in der Erwachsenenonkologie geforscht, um den Krankheitsverlauf beispielsweise bei Leukämien vorhersagen zu können. Bei Kindern mit Neuroblastomen könnten sie helfen, junge Hochrisikopatienten von Kindern zu unterscheiden, die gar keine Therapie benötigen, so hofft das Forscherteam. „Wir arbeiten derzeit daran, die Tumorevolution als zuverlässigen Biomarker bei Neuroblastomen zu etablieren“, betont Westermann. „Im Idealfall würde so eine Analyse nach der Probenentnahme dann nur etwa drei Wochen dauern, um eine individuelle Therapieempfehlung geben zu können.“
Quelle: DKFZ/Krebsgesellschaft
Artikel teilen