Wenn die Ursachen schwerer Erkrankungen auf einem defekten Gen beruhen, setzt die Medizin auf Gentherapie. Bei dieser Strategie werden mit Hilfe von bestimmten Viren fehlerfreie Gene in den Körper eingeschleust. So lassen sich schon heute einzelne Formen der angeborenen Blindheit, des erblichen Muskelschwundes oder bestimmte Erkrankungen des Blutes und des Immunsystems behandeln. Die als Genfähren verwendeten viralen Vektoren arbeiten jedoch auf unterschiedliche Art. Die einen liefern das intakte Gen einfach in der Zelle ab. Die anderen gehören zu den Retroviren und bauen die funktionstüchtige Kopie fest im Genom ein. Das hat den Vorteil, dass die gesunde Kopie des Gens bei der Zellteilung an alle Nachkommen der behandelten Stammzelle und den daraus entstehenden Zellen weitergegeben wird. Dabei besteht allerdings ein Risiko: Die retroviralen Genfähren können manchmal Krebsgene anschalten und so Leukämie auslösen. Jetzt hat ein internationales Forschungsteam um Dr. Michael Rothe vom Institut für Experimentelle Hämatologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) einen Sicherheitstest entwickelt, der das mögliche Krebsrisiko von Retrovirus-Vektoren genau vorhersagen kann.
Hämatopoetische Stammzellen des Blutes in den Fokus genommen
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die sogenannten hämatopoetischen Stammzellen des Blutes in den Fokus genommen. Diese Blutstammzellen werden unter anderem im Knochenmark gebildet und können rote Blutkörperchen, Blutplättchen und auch die für das Immunsystem wichtigen verschiedenen weißen Blutzellen produzieren. „Die Blutstammzell-Gentherapie mit retroviralen Vektoren ist bei Bluterkrankungen, die nur durch ein einziges defektes Gen hervorgerufen werden, eine vielversprechende Therapie“, sagt Dr. Dr. Adrian Schwarzer, Mediziner an der Klinik für Hämatologie, Hämostaseologie, Onkologie und Stammzelltransplantation und Erstautor der Veröffentlichung. In einigen klinischen Studien entwickelten einzelne Patientinnen und Patienten allerdings Leukämien, nachdem ihnen die genetisch veränderten Blutstammzellen transplantiert worden waren. „Das geschieht, wenn sich der Vektor in der Nähe von Krebsgenen einbaut und diese aktiviert“, erklärt Dr. Rothe.
Nutzung von künstlicher Intelligenz
Um diese Nebenwirkung zu verhindern, werden die Vektoren normalerweise im Mausmodell getestet, bevor sie an Patienten angewendet werden. „Das ist langwierig, und leider nicht immer sehr aussagekräftig“, betont der Wissenschaftler. Der am Institut von Professor Dr. Axel Schambach bereits vor einigen Jahren entwickelte und in den USA, Kanada, Australien und Europa zugelassene IVIM (In Vitro Immortalization)-Test erkennt problematische Vektoren bereits in Zellkultur. Doch der neue Sicherheitstest Surrogate Assay for Genotoxicity Assessment (SAGA) kann noch mehr. Die Wissenschaftler entdeckten, dass genotoxische Vektoren die Umsetzung der genetischen Information von einigen Genen spezifisch verändern und so eine typische Spur hinterlassen. Die Wissenschaftler nutzen künstliche Intelligenz, um diese Genexpressionssignatur aus elf Genen zu erkennen, wenn Blutstammzellen mit den Gentherapie-Vektoren in der Zellkultur behandelt werden. „SAGA hat alle bekannten krebsauslösenden Vektoren herausgefiltert“, sagt Dr. Rothe. Durch maschinelles Lernen sei das System in der Lage, auch für neu entwickelte Vektoren zur Stammzell-Gentherapie eine schnelle und zuverlässige Risikobewertung abzugeben. Die Ergebnisse ebnen den Weg für sicherere Gentherapiestudien und sollen Leukämien als mögliche gefährliche Nebenwirkung in Zukunft ausschließen.
Schwarzer A, Talbot SR, Selich A, et al.: Predicting genotoxicity of viral vectors for stem cell gene therapy using gene expression-based machine learning. Molecular Therapy, 2021.
Quelle: idw/MHH
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