Kennen Sie die Geschichte des Skorbuts?

Nico Janz
Grafik zu den Auswirkungen des Vitamin-C-Mangels
Die Auswirkungen des Vitamin-C-Mangels © bilderzwerg/stock.adobe.com
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Faszinierend und zugleich spektakulär ist die Geschichte der Ascorbinsäure, des wohl bekanntesten essenziellen Ernährungszusatzstoffs, des „Vitamins C“. Und wer hätte gedacht, dass gerade die Seefahrt mit der Entdeckung der restlichen Welt eine entscheidende Rolle spielte, das Vitamin und eine damit verbundene schwerwiegende Krankheit zu verstehen.

Wer in See stechen will, muss seine Ängste überwinden, sich ins Unbekannte wagen, sich den Elementen stellen, Gefahren trotzen und sich dabei natürlich auch ernähren. Jahrhunderte lang verlief die Lebensmittelversorgung an Bord von Schiffen ohne Probleme, da man sich eigentlich nur wenige Seemeilen von der Küste entfernte. In früheren Kulturen bis weit ins Mittelalter war das Bild der Erde eine Scheibe. Erst der genuesische Entdecker Christoph Kolumbus (1451–1506) brach 1492 auf, den west­lichen Seeweg nach Indien zu finden, auf der Suche nach Luxusgütern, Pfeffer und anderen Gewürzen. Stattdessen entdeckte er Amerika.

Unsichtbarer tödlicher Gast an Bord

Mit dem darauffolgenden weltweiten Aufbau beliebiger Handels­routen zum Orient, Asien oder zur westlichen Hemisphäre und den damit verbundenen längeren Transferzeiten auf See hatten sturm­erprobte Seeleute einen unsichtbaren tödlichen Gast an Bord, den man Skorbut oder auch Scharbock oder Mundfäule nannte (die Namensgebung ist wahrscheinlich aus dem niederländischen Begriff Scheurbuik = „wunder Bauch“ geprägt). Eigentlich waren Unwetter, Piraten oder Eisberge jahrhundertelang große Gefahren für sturm­erprobte Seefahrer, doch das unheimliche Phänomen Skorbut reiste als blinder Passagier bei vielen Reisen mit und behinderte die aufstrebende Seefahrt erheblich. Es beginnt oft mit Zahnausfall, Erschöpfung, Gewichtsverlust und Blutungen, gefolgt von Arbeitsunfähigkeit, massiven Ausfallerscheinungen und am Ende kann es sogar der Tod sein. Die Ursache war gänzlich unbekannt. So wurden Seeungeheuer, giftiger Atem oder auch schlechtes Klima als Ursache debattiert. Auf unzähligen Reisen berühmter Seefahrer im „age of sail“, dem sogenannten Zeitalter der Segelschiffe zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert, wurde immer wieder von extremen Verlusten unter der Besatzung durch Skorbut berichtet. Der Portugiese Vasco da Gama (1469–1524), der im königlichen Auftrag 1498 den Seeweg nach Indien entdeckte, verlor 100 Matrosen seiner 160 Mann starken Besatzung. Der berühmte Freibeuter und Entdecker Sir Francis Drake (1540–1596) verlor bei einem seiner Abenteuer innerhalb weniger Monate 600 von 2.300 Mann seines Geschwaders. Die Expedition von George Anson (1697–1762) war ein Erfolg, da die Briten die spanische „Manila Galeone“ kaperten, allerdings war es gleichzeitig eine Katastrophe. Der Fluch des Skorbuts hatte seinen dramatischen Höhepunkt: 1.800 von 2.000 Seeleuten sind an der Krankheit verstorben.

Belegt sind circa 2.000.000 Opfer

Über viele dieser Männer, die sich aufmachten, auf hoher See die Welt zu entdecken, gibt es unzählige Berichte und Abenteuergeschichten. Doch was die Seemänner während dieser langen Reisen gegessen haben, ist noch ein weitgehend kaum berichtetes Kapitel der Seefahrtsgeschichte, denn davon handeln diese Erzählungen meist nie. Aber wenn man wochenlang mit einem Segelschiff unter Strapazen und auf hoher See unterwegs war, gab es sicherlich eine Notwendigkeit, über das Essen nachzudenken und für Dauernahrungsmittel zu sorgen. So wurden vor allem ranziges Dörrfleisch, Zwieback (oft mit Maden versetzt), Fett, Hülsenfrüchte, Käse, Rum oder Kartoffeln eingelagert. An eine Versorgung mit Obst oder frischem Gemüse war gar nicht zu denken. Jacques Cartier (1491–1557), ein französischer Seefahrer, erkundete den St.-Lorenz-Strom und landete 1535 im heutigen Montreal in Kanada. Die meisten seiner Besatzung litten an Skorbut. Eintragungen aus seinem Logbuch beschreiben ein Indianerrezept aus gekochter Tannenrinde und Kiefernadeln, das seiner Mannschaft das Leben rettete. Langsam dämmerte die Erkenntnis, dass wahrscheinlich ein Zusammenhang zwischen einer einseitigen Ernährung und Skorbut bestehe. Die britische Marine suchte dringend nach einem gelehrten Mann, um diese Heimsuchung der Meere und die Verschwendung so vieler Seefahrerleben zu beenden. Belegt sind in all den Jahren circa 2.000.000 Opfer.

Der Schotte James Lind (1716–1794), ein Schiffsarzt der englischen Navy, war für diese Aufgabe der Richtige. Lind stellte Versuche mit verschiedenen Therapieansätzen bei Skorbut an, eigentlich eine der ersten klinischen Studien. Er verabreichte zwölf erkrankten Matrosen Knoblauch, Pilze, Meerrettich, Apfelmost, Meerwasser, Orangen und Zitronen. Diejenigen, die mit Zitrusfrüchten behandelt wurden, genasen fast über Nacht. James Cook (1782–1779), ein bedeutender Seefahrer der Neuzeit, war der Erste, der die Krankheit wirkungsvoll bekämpfte. Cook machte sich Linds Ergebnisse zunutze. Er verordnete seiner Mannschaft Sauerkraut und Agrumen (säuerliche Früchte), sodass er auf einer dreijährigen Reise keinen einzigen Matrosen verlor. Weil Zitronen aus dem Mittelmeerraum teuer und aufgrund von politischen Allianzen schwer zu bekommen waren, griff die britische Navy auf Limetten aus den von den Engländern beherrschten West­indischen Inseln zurück. So wurde der Begriff „Limeys“ für die englischen Seeleute geprägt. Leider wirkte der Limettensaft nicht so gut wie der Saft von Zitronen.

Vitamin C muss mit der Nahrung ­aufgenommen werden

Fatale Missverständnisse und Unwissenheit hielten den Todbringer Skorbut jedoch noch einige Zeit am Leben, auch in Gefängnissen, Armen- und Waisenhäusern. Bei der 1845 mit modernster Technik ausgerüsteten Expedition des Polarexperten John Franklin (1786–1847) zur Erkundung der Nordwestpassage starben alle Besatzungsmitglieder nicht nur an einer Bleivergiftung durch falsch produzierte Konservendosen, sondern auch etliche an Skorbut. Doch warum erfährt der menschliche Körper durch Skorbut eine so extreme physische Schwäche, Verwesungsgeruch aus dem Mund und Lethargie? Es ist ein Mangel an Vitamin C. Der menschliche Körper braucht Vitamin C oder Ascorbinsäure, um das Enzym Prolinhydroxylase herzustellen. Und dieses Enzym ist notwendig, um das Protein Kollagen herzustellen. Kollagen, der „Klebstoff“ unseres Körpers, ist zuständig für Bindegewebe, Knochen oder Dentin. Letztendlich fällt der Körper ohne Ascorbinsäure auseinander beziehungsweise „löst sich auf“. Interessant ist, dass neben dem Meerschweinchen, einigen Primaten und der Fledermaus der Mensch das einzige Lebewesen ist, das nicht selber Ascorbinsäure herstellen kann, also muss Vitamin C mit der Nahrung aufgenommen werden. Der normale Vitamin-C-Level im menschlichen Körper liegt bei 900–1.500 mg. Verbraucht werden ­täglich circa 50 mg. Fällt der Wert unter 500 mg, beginnen die ersten Symptome von Skorbut. Der wissenschaftliche Beweis, dass der Mensch zusätzliche Nahrungsfaktoren benötigt, erfolgte dann erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch erste biochemische Studien. Langsam wurde den Forschern bewusst, dass eine Mangelernährung für einige Krankheiten verantwortlich war. Dazu gehören neben Skorbut auch Pellagra oder Rachitis. Der Begriff Vitamin wurde dann 1912 von Casimir Funk (1884–1967) geprägt. Albert von Szent-Györgyi (1893–1986) isolierte 1928 das Vitamin C und erhielt 1937 den Nobelpreis.

Skorbut in der Gegenwart?

Erstaunlich ist, dass Ärzte im Jahr 2024 in Australien wieder einen Skorbutfall gemeldet haben. Ein Patient mit Hautausschlag, ein­geschränkter Bewegung und Schmerzen wurde in ein Krankenhaus in Perth eingeliefert. Alle Tests auf Entzündungs- oder Autoimmun­erkrankungen waren negativ. Erst die Anamnese konnte das Geheimnis lüften. Der australische Patient hatte vor einigen Jahren eine gewichtsreduzierende Operation hinter sich gebracht, ein Teil des Darms und des Magens wurden entfernt. Aufgrund von finanziellen Engpässen und der steigenden Lebenshaltungskosten vernachlässigte der Kranke seine Ernährung, und die nach der OP verschriebenen Vitamin- und Mineralstoffpräparate konnte er sich nicht mehr leisten. Dass die alte „Geißel der Seefahrer“ ausgerechnet in Australien wieder auftaucht und das aufgrund eines bariatrischen Eingriffs und steigender Lebenshaltungskosten ist schon kurios. Denn der britische Seefahrer James Cook, der Australien 1770 zur britischen Krone annektierte, verlor kein Besatzungsmitglied durch Skorbut.

Literatur

1. Lind J: A Treatise on the Scurvy (Abhandlung über den Skorbut), 1753.
2. Karpenter HJ: The History of Scurvy and Vitamin C. Cambridge University Press, 1986.

 

Entnommen aus MT im Dialog 4/2025

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