Historische Pandemien mit Auswirkungen auf die heutige Gesellschaft (Teil 1)

Geschichte der Pandemien
Hardy-Thorsten Panknin
Historische Pandemien mit Auswirkungen auf die heutige Gesellschaft (Teil 1)
Abb. 1: „Cimitero delle Fontanelle“ (Friedhof der Fontanelle) in Neapel © HT Panknin
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Pandemien in der Geschichte: Schon in den ältesten Aufzeichnungen der Menschheit finden wir die ersten Angaben über große kontagiöse Infektionen: die sogenannten Seuchen*.

* Anmerkung: Die heute im deutschen Sprachraum geläufige Sammelbezeichnung Infektionskrankheiten, die den Begriff Seuche abgelöst hat, wurde 1856 von dem Pathologen Rudolf Virchow (1821 bis 1902) geprägt.

„Die Seuchen sind allgemeine Erkrankungen des gesamten Körpers, sie entstehen durch Eindringen einer belebten äußeren, die Krankheit erzeugenden Ursache, führen zu schweren und schwersten Gesundheitsstörungen und zeichnen sich oft durch plötzlichen Ausbruch meist aus vollster Gesundheit und sehr häufig durch ihre hohe Sterblichkeit aus. Das sind alles sehr eindrucksvolle Erscheinungen, aber sie betreffen zunächst nur das Einzelschicksal. Das wesentlichste ist aber doch, dass die Epidemien eine Massenerscheinung sind, dass wir gleichzeitig eine sehr große Anzahl Menschen von derselben Krankheit befallen sehen und dass dann plötzlich diese Massenerkrankung wieder verschwindet. Die Folgen eines Seuchenausbruches sind immer schwer für den einzelnen; schwerer noch für die Gesellschaft, welche die bevölkerungspolitische und wirtschaftliche Einbuße zu tragen und für die künftige Verhütung neue Opfer aufzuwenden hat. Darum wird es die Aufgabe der Forscherarbeit, die Ursachen der Seuchen zu erforschen und aus einer jeden Seuchensteigerung die Probe auf das Zutreffen ihrer Folgerungen zu machen und ihre Kenntnisse zu erhöhen.“

Prof. Dr. med. Adolf Gottstein. In: Lehre der Epidemien, Berlin 1929 [18].

In der babylonischen Sage, in den Aufzeichnungen der alten Ägypter und der Bibel, von den Schriftstellern Griechenlands und Roms wurde über schwere Infektionen berichtet. Der griechische Geschichtsschreiber Thukydides schrieb über den Einfall der Peloponnesier in Attika im Jahr 430 – vor unserer Zeitrechnung – über eine ausbrechende Erkrankung, die früher als die Pest angesehen wurde. Im Nachhinein muss es sich aber wahrscheinlich bei der Infektion um eine Fleckfieberepidemie gehandelt haben. Diese Epidemie wütete drei Jahre in Athen. Thukydides tappte über den Ursprung dieser Infektionskrankheit und die Gründe ihrer Verbreitung völlig im Dunkeln.

Die in der Antike aufgetretenen schweren kontagiösen Infektionen beziehungsweise Epidemien wie Pest, Pocken, Fleckfieber wurden nicht nach der Verschiedenartigkeit der Krankheitsbilder auseinandergehalten. Das Fleckfieber war in seiner Verbreitung und Mortalität den Epidemienzügen der Pest nicht unterlegen. Im Talmud finden wir die ersten Mitteilungen über die Bedeutung der Laus als Krankheitsüberträgerin: „Setzen sich in einem noch nicht vor 8 Tagen gewaschenen Hemd weiße Läuse fest, so befördern sie an den, welcher das Hemd trägt, ansteckenden Aussatz.“ Im 2. Buch Mose 8,17 heißt es: „Aaron schlug mit einem Stab in den Staub, und es wurden aus diesem Läuse an den Menschen und dem Vieh. Aller Staub des Lebens wandelte sich in sie.“ Im Kapitel 9.10 heißt es weiter: „Und sie nahmen Ruß aus dem Ofen und traten vor Pharao, und Moses sprengte ihn gen Himmel. Da fuhren auf böse Blattern.“ Die Läuseplage muss im Altertum in großem Ausmaß bestanden haben und dürfte bei den Griechen und Römern zur Entfernung des Kopf- und Barthaares durch Rasieren geführt haben. Die Seife, die zum ersten Mal von dem römischen Gelehrten Gaius Plinius Secundus Maior, auch Plinius der Ältere, erwähnt wird, stammte aus Gallien und wurde aus Ziegenspeck und Buchenholzasche hergestellt. Man benutzte sie nicht zum Waschen, sondern zum Rötlichfärben der Haare bei den Frauen und wahrscheinlich auch gegen die Kopfläuse.

Die Ausdehnung der Epidemien war im Altertum an die großen Verkehrsstraßen gebunden. In den dicht besiedelten Städten wie Alexandrien, Athen und Rom erkrankten große Teile der Bevölkerung, während im Zusammenhang mit den schlechten Transportmitteln die Ausdehnung der Epidemien über die einzelnen Länder langsam vor sich ging. Mit Beginn der Kreuzzüge (1096 bis 1099 der erste, 1270 der letzte) erhöhte sich die Ausbreitung des Fleckfiebers. Bei der Belagerung Neapels im Jahr 1528 wütete eine große Fleckfieberepidemie unter den französischen Truppen. In dieser Zeit wurde von Hieronymus Fracastoro (1483 bis 1553) in seinem Buch 1546 „Von den Contagien, den kontagiösen Krankheiten und deren Behandlung“ das Fleckfieber beschrieben und in der Differenzialdiagnose gegen die Pest und Syphilis abgegrenzt. Im Königreich Neapel wütete vom September 1494 bis Oktober 1495 die Lues (Syphilis). Während früher von manchen Medizinhistorikern angenommen wurde, dass die Syphilis schon im Altertum bekannt gewesen wäre, wurde aufgrund der neueren Forschungen und der Auffindung von Knochen mit syphilitischen Veränderungen in präkolumbianischen Gräbern festgestellt, dass die Lues amerikanischen Ursprungs ist und von der Mannschaft des Kolumbus am 4. März 1493 nach Barcelona unbemerkt eingeschleppt wurde. Bei seiner ersten Amerikafahrt soll Kolumbus diese Krankheit unter den Eingeborenen von Hispaniola (Haiti) im Jahr 1492 vorgefunden haben. Sie war ein Morbus serpentinus, eine „fressende“ Krankheit, die überall im Körper Eiterungen hervorrief, Knochen zerfraß und schließlich das Gehirn zerstörte und die Persönlichkeit auslöschte. Bei seinen Expeditionen machte Kolumbus gleichfalls mit dem Gelbfieber Bekanntschaft.

Während diese beiden Infektionen nach Europa eingeschleppt wurden, wurden andere schwere Infektionskrankheiten wie Pest, Pocken, Grippe, Typhus, Diphtherie, Scharlach im 16. Jahrhundert aus Europa als Neobionten nach Amerika verbracht. Die Syphiliserkrankungen, die sich während der Belagerung von Neapel außerordentlich schnell ausbreiteten, gingen von den Spaniern auf die Franzosen und Italiener über. Als die Infektionskrankheit später von Frankreich aus nach Deutschland und England eingeschleppt wurde, bekam sie den Namen „Franzosenkrankheit“ oder „Französische Pocken“. Den Namen „Syphilis“ erhielt diese Epidemie in der Renaissance durch Hieronymus Fracastoro. Das erste Auftreten der Syphilis nahm in Europa einen entsetzlichen Verlauf: Die Infektion verwüstete ganze Länder und Landstriche, spielte sogar eine Rolle beim Niedergang bestimmter Dynastien, und nahm in vielen Fällen einen tödlichen Ausgang.

Über die Bekämpfung der kontagiösen Infektionen herrschten im Altertum und Mittelalter die unklarsten Vorstellungen. Als Überträger von gemeingefährlichen Infektionen wurden schlechte Dünste, tellurische Erscheinungen (elektrischer Strom, der sich unter der Erde oder durch das Meer bewegt), die Entdeckung von Kometen oder die Stellung der Himmelskörper zur Erklärung herangezogen. Die eigentlichen Erreger blieben bis in die Neuzeit jedoch unbekannt.

Die Schwere der kontagiösen Infektionen, die Änderungen im Charakter einzelner Epidemienzüge und die Dauer dieser gemeingefährlichen Infektionen waren an die sozialen Verhältnisse eng gebunden: Kriege und Hungersnöte sind oft die Wegbereiter gewesen. Armut der Bevölkerung und besonders die engen Wohnverhältnisse der mittelalterlichen Städte waren bestimmend für die zeitliche Periode der gemeingefährlichen Infektionskrankheiten, die den pathologischen Schauplatz jahrtausendelang beherrschte.

Unerklärlich bleibt aber, welche Faktoren zum Erlöschen der Epidemien tatsächlich führten? Das Leben im Mittelalter war besonders häufig von Tod, Krankheit und Unwissen geprägt; so lautet die gängige Vorstellung vieler Menschen im Zusammenhang mit der Zeitepoche. Die erste spezifische Epidemiebekämpfung gegen kontagiöse Infektionen in Europa erfolgte durch die im Jahr 1796 von Edward Jenner (1749 bis 1823) in England angewandte Impfung gegen die Pocken; auch als schwarze Blattern bezeichnet, die durch das Pockenvirus (Orthopoxvirus variolae) verursacht wird. In großem Umfang wurde von Napoleon Bonaparte, als Kaiser Napoleon I., im Jahr 1805 die Impfung aller Soldaten, welche die Pocken noch nicht durchgemacht hatten, angeordnet. 1809 wurde das erste Impfgesetz in Frankreich veröffentlicht. Nach dem Sturz Napoleons geriet die Pockenschutzimpfung jedoch in Vergessenheit; mit schwerwiegenden Folgen. Frankreich wurde erneut von größeren und kleineren Pockenepidemien heimgesucht. Im Deutsch-Französischen Krieg verlor die französische Armee allein durch das Pockenvirus 23.400 Mann, während bei den deutschen Truppen nur 278 Pockentodesfälle beziffert wurden [11, 12].

Als historisches Paradebeispiel kontagiöser Infektionen und Naturkatastrophen ist besonders die italienische Stadt Neapel zu nennen. Die Stätte wurde von schweren Katastrophen über Jahrhunderte überzogen. In diesem Zusammenhang wird dabei auf die Grabstätte „Cimitero delle Fontanelle“ (Friedhof der Fontanelle) in Neapel besonders verwiesen (Abbildung 1).

Der Ursprung des imposanten Gebeinhauses reicht zurück ins 17. Jahrhundert, als die Stadt von drei Volksaufständen, drei Hungersnöten, drei Erdbeben, fünf Vesuvausbrüchen und drei Epidemien schwer erschüttert wurde. Man nimmt an, dass die Leichenbestatter die Kadaver der Opfer in dem Gebeinhaus niederlegten, mit Erde bedeckten und die Grotten einmauerten, als die Kirchenfriedhöfe der Stadt – „terre sante“ (gesunde Erde) – nicht mehr genügend Platz für die vielen Opfer boten. Laut dem Architekten Carlo Praus wurde die Fontanelle im Jahr 1764, als Neapel eine gravierende Hungersnot erlitt, erneut zur Grabstätte geöffnet; dieses Mal für die unteren Bevölkerungsschichten bestimmt, denn die vielen Toten konnten in den öffentlichen Gräbern auf den umliegenden Friedhöfen aufgrund von Platzmangel nicht bestattet werden. Als 1837 die Choleraepidemie in Neapel vorbei war, wurde die Fontanelle neuerlich geöffnet, um erneut weitere Tote aufzunehmen. Anlässlich dieser Gegebenheit befahl das Gesundheitsamt, Gebeine – auch aus den Kirchenfriedhöfen und denen der Bruderschaften („Congreghe“) – in die Fontanelle zu tragen. Zeitgenossen berichteten, wie tagelang exhumierte Überreste auf Karren durch die Straßen von Neapel gezogen wurden. Der Pfarrer von Materdei, Don Gaetano Barbato, war es, der mithilfe seiner Pfarrgemeinde die Knochen in der Weise anordnete, wie wir sie heute noch vorfinden – allesamt anonym (Abbildung 1).

Während des Zweiten Weltkrieges begannen die sogenannten Adoptionen, die sich bis in die 1950er-Jahre fortsetzten. Dabei wurden Knochen und Schädel von den Gläubigen in Holz-, Glas- oder Marmorschreinen versetzt und als „anime adottate“ (adoptierte Seelen) bezeichnet. Ihnen wurden Gebete gewidmet; gelegentlich auch zu okkulten Zwecken. Kardinal Corrado Ursi, Erzbischof von Neapel, beschloss im Jahr 1969 die Schließung der Begräbnisstätte; er hielt den dort praktizierten Kult für eine Art Fetischismus. Noch im Jahr 1973 brach in Neapel und Torre del Greco eine Choleraepidemie aus. Schnell gab es erneut Panik: Die Einwohner schlossen sich zu Hause ein und mieden einander. Der Bürgermeister von Torro el Greco erklärte einige Jahre später: „Ich erinnere mich, dass am nächsten Morgen alle italienischen Zeitungen in großen Schlagzeilen von dem Ereignis berichteten, und daher wurde die gesamte Bevölkerung von Furcht gepackt, die die Leute zuerst einmal dazu trieb, sich zu Hause einzuschließen.“ Ein Arzt berichtete seinerseits: „Zu dieser Zeit versuchte jeder, Personen, die Verwandte im Krankenhaus hatten, zu meiden, aus Angst vor Ansteckung, die selbst dann erfolgen konnte, wenn man nur miteinander redete. Ich erinnere mich, dass man sich damals nicht einmal die Hand gab, wenn man sich begegnete, aus Furcht vor der Krankheit.“ Wer die Möglichkeit dazu hatte, verließ die Stadt: Alle, die die Mittel dazu hatten, brachten ihre Familien weit fort. Nicht wenige Bürger sind fortgegangen und haben es vorgezogen, sich vom Bakterienherd zu entfernen. Und sehr schnell, wie im Mittelalter, gab man den Fremden die Schuld. Ein Choleraopfer klagte an: „Man hat uns mit dieser Krankheit infiziert, die aus dem Ausland gekommen ist: aus Afrika, glauben wir.“ Und der Pfarrer von Torre del Greco fuhr fort: „Ich persönlich glaube, dass diese Bakterien von Leuten aus dem Ausland eingeschleppt worden sind“ [34].

Nicht zu vergessen sind dabei auch andere schwere Epi- und Pandemien: das Fleckfieber, das gewisse Interferenz in der Symptomatik mit der Pest aufwies, die rote Ruhr, die Syphilis, die Malaria, und immer wieder die Pocken, die ganze Generationen verunstalteten (Abbildung 2). Selbst ohne eine klare Vorstellung von Ansteckung erkannte man den Aussätzigen als gefährlich; er war verurteilt, und Tod war der einzige Urteilsspruch. Der Aussätzige war aus der Gemeinschaft ausgestoßen, all seiner Güter beraubt, er konnte nur von der öffentlichen Hilfsbereitschaft leben. Die Maßnahmen, um die Gesellschaft vor der Krankheit zu schützen, bestanden allein in Einsperren und Isolieren. Leider gibt die Geschichte über die Betroffenen nur sehr wenig Informationen von ihrer Verzweiflung, ihrem Leiden, ihrer Resignation oder ihrem Aufbegehren. Von einer tödlichen Krankheit befallen, hatten sie kaum mehr die Muße, ein Tagebuch oder gar eine Chronik zu führen; denn die gemeingefährlichen akuten Infektionen wie beispielsweise Pest, Cholera, Flecktyphus und Pocken töteten sehr schnell. Leichenhaufen, Verhaltensweisen der Menschenmassen, Panik, Ausschweifungen und Revolten oder aber Praktiken aller Art, um sich vor der Epidemie zu schützen, werden häufiger in den Chroniken geschildert als der leidende Körper [1, 2, 4, 5, 6, 11, 12, 34].

Abb. 2: Ein Kind mit Pocken | © CDC/public domain

Zwölf Pockenausbrüche sind in Deutschland zwischen 1947 und 1972 dokumentiert, elf in der damaligen Bundesrepublik Deutschland und ein Ausbruch in der Deutschen Demokratischen Republik. Insgesamt erkrankten 95 Personen, von denen zehn verstarben; 81 Menschen erkrankten trotz Pockenschutzimpfung. Nach globalen Impfkampagnen erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 9. Dezember 1979: „Smallpox has been eradicated from the world“ (Die Pocken sind in der Welt ausgerottet) [10].

Die Literatur folgt.

Entnommen aus MTA Dialog 8/2021

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