„Unser Gesundheitswesen braucht Wertschätzung"
„Es ist völlig unverständlich, dass wir einen Chemie- und Autogipfel im Kanzleramt haben, aber keinen Gesundheitsgipfel“, sagte Reinhardt in Mainz. Die gesundheitlichen Herausforderungen einer Gesellschaft des langen Lebens seien zu komplex, als dass diese von nur einem Ministerium, dem Bundesgesundheitsministerium, bewältigt werden könnten.
Seit Jahren bleibe die Politik die Antwort auf die Frage schuldig, wie angesichts des demografischen Wandels eine gute Gesundheitsversorgung dauerhaft gesichert werden könne. Nicht nur die Bevölkerung insgesamt werde älter, sondern auch die Menschen, die das Gesundheitssystem tragen. Diese offene Frage sei mit ein Grund für die große Unzufriedenheit von Ärztinnen und Ärzten aus Klinik und Praxis. „Sie wollen Zeit für Zuwendung statt Medizin im Minutentakt. Sie wollen in einem Gesundheitssystem arbeiten, das geprägt ist von menschlicher Wertschätzung und nicht von materieller Wertschöpfung“, erklärte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK).
Eine patientengerechtere Steuerung der Versorgung
Es gehe nicht darum, möglichst viel neues Geld in das Gesundheitssystem zu pumpen, sondern darum, den notwendigen Behandlungsbedarf auskömmlich zu finanzieren. „Gleichzeitig muss Ziel der Gesundheitsversorgung sein, die vorhandenen Ressourcen so effektiv, aufeinander abgestimmt und effizient einzusetzen, dass sie dem tatsächlichen Behandlungsbedarf unserer Patientinnen und Patienten gerecht werden“, sagte Reinhardt mit Blick auf das Schwerpunktthema des 128. Deutschen Ärztetages. Die Delegierten beraten darüber, wie durch Struktur- und Prozessreformen sowie innovative sektorenübergreifende Versorgungsmodelle eine patientengerechtere Steuerung der Versorgung und somit eine strukturiertere Inanspruchnahme medizinischer Leistungen erreicht werden kann.
Reinhardt forderte den Bundesgesundheitsminister dazu auf, bei seinen Reformvorhaben die Ärzteschaft und andere Gesundheitsberufe stärker und früher einzubinden. „Haben Sie den Mut, Erfahrungskompetenz in praktikable Lösungskompetenzen umzusetzen“, sagte der BÄK-Präsident. Eine Gelegenheit dazu böte die aktuelle Krankenhausreform. „Auch wenn wir durchaus richtige Ansätze erkennen und die großen Ziele teilen, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt unklar, ob die selbstgesteckten Ziele von Qualitätsverbesserung, Entbürokratisierung und Sicherung der flächendeckenden Versorgung erreicht werden können.“ Insbesondere würden die ärztliche Weiterbildung und Fragen der ärztlichen Personalausstattung nicht ausreichend berücksichtigt.
Maßnahmen gegen unnötige Bürokratie
Eine deutliche Absage erteilte Reinhardt den kürzlich vorgelegten Empfehlungen der Regierungskommission für die Krankenhausreform, das leistungsfähige und breit aufgestellte Netz von Facharztpraxen in Deutschland abzuschaffen. Ebenfalls notwendig seien aus Sicht der Ärzteschaft wirksame Maßnahmen gegen unnötige Bürokratie im Gesundheitswesen. „In Zeiten gravierender Personalnot darf es nicht sein, dass die wertvolle Arbeitszeit in unnötige und nervtötende Bürokratie versenkt wird“, so Reinhardt.
Mit Blick auf das 75-jährige Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai warnte Reinhardt vor einer zunehmenden Polarisierung in der politischen Auseinandersetzung. Hass und Hetze, Diskriminierung und Ausgrenzung seien eine Gefahr für eine humane, tolerante und pluralistische Gesellschaft. Reinhardt verwies darauf, dass das Grundgesetz grundlegend für die ärztliche Berufsausübung sei: die Freiheitsrechte, die Berufsausübungsfreiheit, der Gleichheitsgrundsatz, das Sozialstaatsprinzip, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – all diese Rechte würden den Rahmen ärztlicher Arbeit bilden. Reinhardt kündigte an, dass sich der 128. Deutsche Ärztetag in einer eigenen Resolution entschieden für den Erhalt der freiheitlich demokratischen Grundordnung in Deutschland einsetzen werde. Es gelte, diese Werteordnung zu verteidigen.
Gesprächsangebot von Bundesgesundheitsminister Lauterbach
Angesichts der anstehenden „Zeitenwende“ im Gesundheitswesen könne man es sich nicht leisten, nicht miteinander zu reden, betonte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD. Das BMG werde in der derzeitigen „kritischen Phase“ der gesundheitspolitischen Gesetzgebungsprozesse die Kontakte mit der BÄK, den Ärztekammern, den Kassenärztlichen Vereinigungen sowie der Deutschen Krankenhausgesellschaft halten. Lauterbach will Krankenhäuser stärker spezialisieren, das System entbürokratisieren sowie die medizinische Forschung stärken.
Quelle: BÄK
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