Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat Menschen unter 60 Jahren eine vierte Corona-Impfung empfohlen. "Wenn jemand den Sommer genießen will und kein Risiko eingehen will zu erkranken, dann würde ich in Absprache natürlich mit dem Hausarzt auch Jüngeren die Impfung empfehlen", hatte der SPD-Politiker dem "Spiegel" gesagt. Dann habe man einfach eine ganz andere Sicherheit. Und: Das Long-Covid-Risiko sei "deutlich reduziert für ein paar Monate", ebenso wie das Infektionsrisiko. Doch gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen einer vierten Impfung und der Minderung des Long-COVID-Risikos? Und welche Studien belegen das?
Antworten des Bundesgesundheitsministeriums
Nach derzeitigem Kenntnisstand sei die beste Möglichkeit, sich vor Long COVID zu schützen, eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu vermeiden. Dies gelinge am besten mit Hilfe der Impfung und der empfohlenen Infektionsschutzmaßnahmen. Eine COVID-19-Schutzimpfung mit Auffrischimpfung sei nach derzeitigem Kenntnisstand die effektivste Maßnahme gegen eine Erkrankung an COVID-19, insbesondere einen schweren Verlauf.
COVID-19-Schutzimpfung und Long COVID
Seit Anfang 2022 sind Ergebnisse mehrerer Kohortenstudien* erschienen, die zusätzlich den Zusammenhang zwischen COVID-19-Schutzimpfung und Long COVID gemäß der aktuellen Definition nach WHO (anderweitig nicht erklärbare, anhaltend oder neu auftretende gesundheitliche Symptome oder Erkrankungen ≥ 28 Tage nach laborbestätigter SARS-CoV-2-Infektion) untersucht haben.
Die Ergebnisse dieser Studien, darunter auch die im Fachblatt „The Lancet Infectious Diseases“ erschienene „Zoe COVID Study“, legen nach Auffassung des Bundesgesundheitsministeriums nahe, dass eine vollständige COVID-19-Schutzimpfung nicht nur das Risiko von schweren Krankheitsverläufen, sondern im Fall einer Infektion nach Impfung auch das Risiko von Langzeitfolgen einer COVID-19-Infektion reduziert. Um sich vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-COV-2 und einer COVID-19-Erkrankung zu schützen, sollten darüber hinaus von allen – auch von Geimpften und Genesenen – die AHA+L+A-Formel und weitere Verhaltensregeln eingehalten werden.
STIKO-Empfehlung
Während EU-Fachbehörden sich wie Lauterbach für eine weitere Auffrischung ab 60 Jahren ausgesprochen haben empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) einen zweiten Booster bislang nur für Über-70-Jährige und einige andere Risikogruppen. STIKO-Chef Thomas Mertens hat sich gegen breite Viertimpfungen auch für jüngere Menschen ausgesprochen und damit gegen die jüngste Empfehlung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach gewandt. Er kenne keine Daten, die einen solchen Ratschlag rechtfertigten, sagte Mertens der "Welt am Sonntag" und fügte hinzu: "Ich halte es für schlecht, medizinische Empfehlungen unter dem Motto 'Viel hilft viel' auszusprechen."
Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung äußerte sich kritisch. Man orientiere sich bei der Frage der Impfempfehlung ganz klar an der Ständigen Impfkommission, so Vize-Chef Stephan Hofmeister. „Die STIKO spricht ihre Empfehlungen nach medizinischwissenschaftlichen Kriterien aus“, betont Vizechef Dr. Stephan Hofmeister und fügt hinzu: „Daran sollte sich alle halten und nicht unnötig vorpreschen.“
Weltärztechef gibt Lauterbach recht
Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, der Bundesgesundheitsminister habe recht, man solle "jede Chance nutzen, den Immunstatus der Bevölkerung zu verbessern". Man solle aber auch die Grundimmunisierung nicht vergessen, warnte er. "Noch immer ist fast ein Viertel unserer Bevölkerung gar nicht geimpft."
Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek schloss sich grundsätzlich der Empfehlung Lauterbachs bezüglich der vierten Impfung an. Er halte aber die Kommunikation des Bundesgesundheitsministers für "verheerend", sagte er im im RBB-Inforadio.
Zunahme von Nebenwirkungen?
Eine relevante Zunahme von immunologischen Nebenwirkungen mit jeder Auffrischimpfung sei nicht zu erwarten, wie Prof. Dr. Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie, Universitätsspital Zürich, Schweiz, vertritt. Das zeigten auch erste Studien zur vierten Impfung. Aktuell versuche man besser zu verstehen, welche SARS-CoV-2-Varianten als Vorlage für den Impfstoff verwendet werden sollten, um zukünftig einen bestmöglichen Schutz gegen zirkulierende Viren sowie Folgeschäden wie Long Covid zu gewährleisten und dabei den Bedarf an Auffrischimpfungen möglichst niedrig zu halten.“ (Quelle: Science Media Center)
Krankschreibungen wegen Long COVID
Die bei manchen Corona-Infektionen auftretenden gesundheitlichen Langzeitfolgen sind nach Einschätzung von Bundesgesundheitsminister Lauterbach nicht nur für die Betroffenen ein Problem, sondern auch für das Gesundheitswesen und die Gesellschaft insgesamt. "Wir haben nicht im Ansatz die Kapazität, die vielen Fälle zu versorgen", sagte er im Interview mit "Zeit Online". Das werde auch für den Arbeitsmarkt relevant sein, weil viele leider nicht mehr zu ihrer alten Leistungsfähigkeit zurückkehren würden.
Laut einer Auswertung von Versichertendaten der Techniker Krankenkasse waren von Erwerbstätigen, die 2020 eine Corona-Diagnose mit PCR-Test bekommen hatten, 2021 knapp ein Prozent mit der Diagnose Long COVID krankgeschrieben. Die Krankschreibungen dauerten demnach relativ lange - im Schnitt 105 Tage.
Rund 8 Prozent doppelt geboostert
Eine zweite Auffrischimpfung mit der vierten Spritze haben laut RKI inzwischen knapp 6,4 Millionen Menschen oder 7,7 Prozent der Bevölkerung. Bei Über-60-Jährigen sind es 22 Prozent. Bislang sind 76,2 Prozent der Menschen vollständig grundimmunisiert, 61,8 Prozent zusätzlich bereits einmal geboostert (Stand 22.Juli).
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