In der plazebo-kontrollierten Studie mit 46 Patientinnen und Patienten stellten die Mediziner fest, dass die Substanz keine schwerwiegenden Nebenwirkungen auslöst. Der Wirkstoff zielt darauf ab, unter anderem die Produktion des schadhaften Proteins Huntingtin einzudämmen. Aufgrund der kurzen Behandlungsdauer kann die Studie noch keine Aussagen zur klinischen Wirksamkeit des Medikaments liefern. „Wir hoffen, dass die Huntington-Krankheit dank des Medikaments weniger schnell verläuft und sich vielleicht sogar Symptome zurückbilden“, sagt der Ulmer Neurologe Prof. Dr. G. Bernhard Landwehrmeyer, der die klinische Studie in Deutschland leitet.
University College London koordinierte die Studie
Die Ergebnisse zur Verträglichkeit berichten die Forscherinnen und Forscher im New England Journal of Medicine vom 13. Juni 2019. Das University College London koordinierte die Studie. In Deutschland beteiligt waren die Abteilung für Neurologie des Universitätsklinikums Ulm/Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm (Prof. Dr. G. Bernhard Landwehrmeyer), das Huntington-Zentrum NRW am St. Josef-Hospital – Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. Carsten Saft) und die Charité – Universitätsmedizin Berlin (Prof. Dr. Josef Priller).
Schwache Nebenwirkungen
Das Medikament wurde per Lumbalpunktion direkt ins Nervenwasser verabreicht. 12 der 46 Patientinnen und Patienten erhielten ein Plazebo. Bei den übrigen Teilnehmern wurde in verschiedenen Kohorten die Dosis schrittweise im Verlauf der Studie gesteigert. Keiner der Patienten berichtete schwere Nebenwirkungen. Einige klagten über leichte Kopfschmerzen, die jedoch auch in der Plazebogruppe auftraten. „Dies ist die typische Nebenwirkung einer Lumbalpunktion, und ist nicht auf den Wirkstoff zurückzuführen“, erklärt Carsten Saft, Leiter des klinischen Bereichs am Bochumer Huntington-Zentrum.
Substanz vermindert die Belastung des Gehirns
Die Forscher beobachteten außerdem, dass das Medikament die Menge des Proteins Huntingtin im Nervenwasser verringerte – ein Hinweis, dass die Substanz so wirkt wie beabsichtigt. „Wir können allerdings noch keine Aussagen zur klinischen Wirksamkeit machen“, betont Carsten Saft. „Dafür war die Patientenzahl zu klein.“
Ziel ist es, dass der Wirkstoff die Menge der schadhaften Huntingtin-Genprodukte und auch des schadhaften Proteins Huntingtin im Gehirngewebe senkt; allerdings kann die Proteinmenge nicht direkt im Gehirn bestimmt werden, sondern nur indirekt im Nervenwasser. „Sollte die Verringerung des Huntington-Proteins gelingen, kann man auch über eine Behandlung noch nicht erkrankter Familienmitglieder nachdenken, die die entsprechende genetische Veränderung in sich tragen“, so Bernhard Landwehrmeyer.
Wirkmechanismus
Bei der Huntington-Krankheit liegt eine Mutation in einem einzigen Gen vor, die dazu führt, dass eine schadhafte Form des Proteins Huntingtin erzeugt wird. Betroffene leiden typischerweise an einer Bewegungsstörung mit unwillkürlichen Überbewegungen. Außerdem kommt es häufig zu einer Wesensveränderung und zu psychischen Veränderungen. Die Krankheit wird autosomal-dominant vererbt: Jeder Nachkomme eines Huntington-Patienten hat eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, Mutationsträger zu sein und selbst zu erkranken.
Bei dem Wirkstoff Ionis-HTT-Rx (RG6042) handelt es sich um ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid. Es dockt an die Boten-RNA an, die eine Kopie des Huntingtin-Gens ist. Die Boten-RNA transportiert den Bauplan für das Protein aus dem Zellkern in die Zellflüssigkeit. Dort wird basierend auf dem Bauplan das Protein Huntingtin erzeugt. Wenn die Boten-RNA durch das Antisense-Präparat blockiert ist und abgebaut wird, wird weniger Huntingtin gebildet. Tierversuchsstudien haben gezeigt, dass die Substanz die Huntingtin-Menge im Gehirn reduziert; darüber hinaus waren die Symptome der Mäuse geringer ausgeprägt.
Weitere Studien geplant
Die Pharmafirma, die die Studie finanzierte, hat gerade eine größere Untersuchung begonnen, die die klinische Wirksamkeit des Medikaments testen soll (Phase-III-Studie). Für diese weltweite Studie sollen etwa 660 Teilnehmer rekrutiert werden, denen das Medikament über zwei Jahre in regelmäßigen Abständen per Lumbalpunktion direkt in das Nervenwasser verabreicht wird.
Anhand dieser Daten wollen die Mediziner auch Veränderungen untersuchen, die sie bislang nicht eindeutig interpretieren konnten, beispielsweise eine unerwartete Veränderung der Hirnventrikel, die sie in der aktuellen Studie bei den Patienten beobachteten.
25 Jahre Huntington-Zentrum NRW
Das Huntington-Zentrum NRW gehört mit etwa 800 Patientinnen und Patienten, die betreut werden, zu den größten der Welt. Das Zentrum ist Mitglied des europäischen Huntington-Netzwerkes (EHDN) und nimmt an der weltweiten Beobachtungsstudie „Enroll-HD“ teil. Humangenetiker (Leiter: Prof. Dr. Huu Phuc Nguyen) und Neurologen (Klinikdirektor: Prof. Dr. Ralf Gold) mit besonderer klinischer Kompetenz arbeiten hier intensiv in Klinik und Forschung zusammen, um eine umfassende psychosoziale Betreuung nicht nur für direkt Betroffene zu gewährleisten, sondern auch für deren Umfeld. 2019 feiert die Einrichtung ihr 25-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass findet am 14. September ein internationales Symposium für Betroffene und Ärzte im Hörsaalzentrum des St. Josef-Hospitals statt.
Huntington-Forschung und -Behandlung in Ulm
Das Huntington-Zentrum der Abteilung Neurologie (Leiter: Prof. Dr. Albert C. Ludolph) der Ulmer Universitätsmedizin betreut regelmäßig rund 500 Patientinnen und Patienten. Das Huntington-Zentrum Ulm ist Sitz der zentralen Koordination des europäischen Huntington-Netzwerkes, das von 2004 bis 2014 von Prof. Dr. G. Bernhard Landwehrmeyer geleitet wurde. Prof. Landwehrmeyer ist auch Leiter der weltweiten prospektiven Kohorten-Studie „Enroll-HD“ mit über 21.000 Teilnehmern, die wichtige Einblicke in den natürlichen Krankheitsverlauf bietet. 2018 hat ein neuer Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Ulm die Arbeit aufgenommen (Standortsprecher: Prof. Dr. Albert C. Ludolph); Schwerpunkt des DZNE-Standorts Ulm sind seltenere neurodegenerative Erkrankungen wie die Huntington-Krankheit. Die Universitätsmedizin bringt neben einem großen Patientenkollektiv Biomaterialien und viel Erfahrung in klinischen Studien ein.
Förderung
Die Forschung wurde unterstützt von Ionis Pharmaceuticals und F. Hoffmann–La Roche. (idw, red)
Sarah J. Tabrizi, et al.: Targeting Huntingtin expression in patients with Huntington’s Disease. New England Journal of Medicine, 2019, DOI: 10.1056/NEJMoa1900907.
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