Mögliche Behandlungsoption bei neurodegenerativen Erkrankungen?
Bei neurodegenerativen Erkrankungen stirbt ein Teil der Nervenzellen im Gehirn ab, was je nach betroffener Hirnregion zu unterschiedlichen Symptomen führt. Bei der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS, bekannt von der Ice-Bucket-Challenge) sterben Neuronen in der motorischen Hirnrinde und im Rückenmark ab, was Lähmungen hervorruft. Einer der bekanntesten Patienten dürfte der Physiker Stephen William Hawking gewesen sein. Bei der Frontotemporalen Demenz (FTD) sind hingegen Hirnregionen betroffen, die für Kognition, Sprache und Persönlichkeit zuständig sind.
Bisher keine wirksamen Behandlungsmethoden
Sowohl ALS als auch FTD sind unaufhaltsam fortschreitende Krankheiten, für die es bisher noch keine wirksamen Behandlungsmethoden gibt. Da die Bevölkerung immer älter wird, ist eine Zunahme von solchen altersbedingten neurodegenerativen Erkrankungen zu erwarten.
Neuer Ansatz?
Forscherinnen und Forscher der Universität Zürich (UZH) haben ein innovatives Zellkulturmodell für Nervenzellen entwickelt, das komplexe Mechanismen der Neurodegeneration aufschlüsselt. Damit konnten sie ein fehlreguliertes Protein als vielversprechenden therapeutischen Ansatzpunkt für die Behandlung der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) und der Frontotemporalen Demenz (FTD) identifizieren.
Zwar wurde die abnorme Anhäufung eines Proteins namens TDP-43 in den Neuronen des zentralen Nervensystems als übereinstimmender Faktor bei einem überwiegenden Teil der ALS- und etwa der Hälfte der FTD-Patienten identifiziert. Doch wie die Neurodegeneration zellulär genau abläuft, ist noch weitgehend unbekannt.
Forschung mithilfe des Zellkulturmodells „iNets“
In ihrer Studie entwickelten Erstautor Marian Hruska-Plochan und Letztautorin Magdalini Polymenidou vom Institut für Quantitative Biomedizin der Universität Zürich ein neuartiges neuronales Zellkulturmodell, das das abweichende Verhalten von TDP-43 in Nervenzellen nachahmt. In diesem Modell entdeckten sie einen toxischen Anstieg des Proteins NPTX2, womit dieses als potenzieller therapeutischer Ansatzpunkt für ALS und FTD in Frage kommt.
Alternde iNets sind robust
Für sein Zellkulturmodell „iNets“ (interconnected neuronal networks) verwendete Hruska-Plochan menschlich induzierte pluripotente Stammzellen. Diese stammen aus Hautzellen, werden im Labor in ein sehr frühes, undifferenziertes Stadium umprogrammiert und dienen damit als Quelle für die Entwicklung vieler verschiedener, gewünschter Zelltypen. iNets ist ein Netzwerk aus solchen miteinander verbundenen Neuronen und ihren Stützzellen, die in mehreren Schichten in einer Schale wachsen.
Überraschenderweise hielten die Kulturen außergewöhnlich lange – bis zu einem Jahr – und ließen sich leicht reproduzieren. „Die Robustheit der alternden iNets erlaubt es uns, Experimente durchzuführen, die sonst nicht möglich gewesen wären“, sagt Hruska-Plochan. „Das Modell ist flexibel und eignet sich für eine breite Palette von experimentellen Methoden.“ Die iNets-Zellkulturen boten so auch ein Modell, um die Entwicklung der TDP-43-Dysfunktion bis zur Neurodegeneration zu untersuchen.
Toxische Anhäufung des Proteins NPTX2
Mithilfe dieses Modells konnten die Wissenschaftler eine toxische Anhäufung des Proteins NPTX2 als Bindeglied zwischen dem Fehlverhalten von TDP-43 und dem Absterben der Nervenzellen nachweisen. Um ihre Hypothese zu überprüfen, untersuchten sie das Hirngewebe von verstorbenen ALS- und FTD-Patientinnen und -Patienten. Tatsächlich stellten sie fest, dass sich NPTX2 auch hier in Zellen anreichert, die eine abnorme Anhäufung von TDP-43 enthalten. Das iNets-Zellkulturmodell konnte die Pathologie von ALS- und FTD-Betroffenen also genau vorhersagen.
Neue, mögliche Behandlungsstrategie?
In weiteren Experimenten mit dem iNets-Modell testeten die Forscherinnen und Forscher, ob NPTX2 ein Ansatzpunkt für die Entwicklung von ALS- und FTD-Medikamenten sein könnte. Sie entwarfen eine Versuchsanordnung, in der – bei einer Anhäufung von TDP-43 in den Neuronen – die NPTX2-Konzentration gesenkt wurde. Es habe sich gezeigt, dass damit der Degeneration in den iNets-Neuronen entgegengewirkt werden konnte. Medikamente, die die Menge des Proteins NPTX2 verringern, könnten daher eine mögliche Behandlungsstrategie sein, um die Neurodegeneration bei ALS- und FTD-Patientinnen und -Patienten zu stoppen.
Bestandteil von Kombinationstherapien?
Für Polymenidou ist diese Entdeckung vielversprechend: „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bevor die Patientinnen/Patienten davon profitieren können, aber die Entdeckung von NPTX2 gibt uns eine klare Chance, ein Therapeutikum zu entwickeln, das beim Kern der Krankheit ansetzt“, sagt sie. „In Verbindung mit zwei weiteren Zielmolekülen, die kürzlich von anderen Forschungsteams identifiziert wurden, ist es denkbar, dass Anti-NPTX2-Wirkstoffe in Zukunft als eine Schlüsselkomponente in einer Kombinationstherapie für ALS und FTD fungieren könnten.“
Quelle: UZH
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