In der Regel kommt es jedes Jahr in den Wintermonaten zu Grippewellen, die unterschiedlich stark ausfallen (Ausnahmen waren die Pandemiejahre, in denen es Maskenpflicht gab). Verursacht werden sie durch Influenzaviren. Schwere Fälle von Influenza-Infektionen sind mit einer Entgleisung des Immunsystems, einem Zytokinsturm mit übermäßiger Ausschüttung von Botenstoffen (Zytokinen) und einer Schädigung der Lungenzellen verbunden. Dies führt zu Gefäßleckagen und kann das Auftreten von Thrombosen begünstigen. Diese Reaktionen haben Ähnlichkeit mit schweren Verläufen von COVID-19, verursacht durch SARS-CoV-2. Wann kommt es zu schweren Krankheitsverläufen und welche Prozesse laufen dabei ab? Viele Details sind hier bisher unbekannt.
Grippevirus (H1N1) und Blutbildung
Zu den Komplikationen schwerer Grippe-Krankheitsverläufe gehören sowohl eine verminderte als auch eine erhöhte Anzahl von Blutplättchen (Thrombozyten) im Blut, die mit einer erhöhten Thromboseneigung einhergehen kann. Forscherinnen und Forscher um Prof. Ute Modlich, Leiterin der Forschungsgruppe „Genmodifikation in Stammzellen“ des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) haben sich in einem Forschungsverbund mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am DKFZ, Heidelberg, und der Universität Heidelberg mit dem Zusammenhang zwischen einer Infektion mit einem Grippevirus (H1N1) und der Blutbildung bzw. der Bildung der Thrombozyten befasst. H1N1-Influenzaviren gehören zu den jährlich in Deutschland auftretenden Grippeviren.
Versuche an Mäusen
Alle Blutzellen und damit auch die Thrombozyten werden durch blutbildende Stammzellen (hämatopoetische Stammzellen, HSZ) erneuert, die sich im Knochenmark in einem ruhenden Zustand befinden. Um die lebenslange Blutbildung (Hämatopoese) sicherzustellen, wird das Schicksal der HSZ zwischen Ruhe, Selbsterneuerung und Differenzierung streng reguliert. Um den Einfluss einer Influenzainfektion auf die Blutbildung zu untersuchen, wurden Mäuse mit Influenzaviren intranasal infiziert und ihre Blutstammzellen an den darauffolgenden Tagen hinsichtlich Differenzierung und Zellzyklusaktivierung untersucht. In den ersten drei Tagen der akuten Influenzainfektion nahmen die Thrombozyten zunächst ab (Thrombopenie), stiegen danach im Blut aber schnell auf Werte über den physiologischen Leveln an (Thrombozytose). Diese schnell produzierten Thrombozyten hatten ein unreifes Erscheinungsbild (Phänotyp) und waren schneller aktivierbar (hyperreaktiv).
Schnellere Regeneration mit Impfung
Bereits zwei Tage nach Infektion befanden sich mehr Blutstammzellen als zuvor im Reifungsprozess (G1- und S/G2/M-Zellzyklusphase). Dabei korrelierte die Aktivierung der Blutstammzellen positiv mit dem viralen Lungentiter, d. h. umso mehr Viren die Lunge befallen hatten, umso mehr Blutstammzellen waren aktiviert. Infektionen mit reduzierten Influenzadosen verzögerten die Stammzellaktivierung, konnten sie aber nicht verhindern. In der Regenerationsphase kehrten die Blutstammzellen in die Ruhephase zurück. Bei geimpften Mäusen geschah dies schneller als in anderen Gruppen.
Blutplättchen sind größer und unreifer
Um die Frage zu klären, wie Thrombozyten so schnell produziert werden können, hat sich das Forschungsteam den Phänotyp der aktivierten Blutstammzellen genauer angeschaut und festgestellt, dass eine Teilmenge der Blutstammzellen bereits typische Marker von Vorläuferzellen der Thrombozyten (Megakaryozyten) tragen. Blutstammzellen mit diesem Oberflächenphänotyp differenzieren direkt zu Megakaryozyten und produzieren Thrombozyten. Dabei überspringen sie mehrere Vorläuferstadien. Die Forschungsgruppe wies durch In-vitro-Lineage-Tracing und Knochenmarkstransplantationen nach, dass sich diese Gruppe von Blutstammzellen nach Influenzainfektion rasch im Knochenmark vermehren. Diese neu produzierten Blutplättchen sind größer und unreifer in ihrem Erscheinungsbild als gewöhnliche Thrombozyten und neigen zur schnelleren Aktivierung, was zu einem höheren Risiko an Blutgerinnseln in der Lunge führen kann.
Zytokine sind entscheidend
Der Vorgang der schnellen Differenzierung von Megakaryozyten ist als Reaktion auf systemische Entzündungen oder Infektionen als Notfall-Megakaryopoese (Emergency Megakaryopoiesis) zwar bereits beschrieben worden. Bisher wurde aber kein Zusammenhang mit lokalen viralen Atemwegserkrankungen vermutet. Obwohl die Influenzavirusinfektion bei den Mäusen auf die Atemwege beschränkt war, fanden sich erhöhte Spiegel der Zytokine Interleukin-1 (IL-1) und Interleukin-6 (IL-6) im Knochenmark infizierter Mäuse. Mit Knockout-Mäusen, bei denen IL-1-Rezeptor sowie Knockout-Mäusen, bei denen das IL-6-Zytokingen ausgeschaltet waren, konnte Forschungsgruppe nachweisen, dass diese Zytokine entscheidend zur Aktivierung der Blutstammzellen und zur Notfall-Megakaryopoese bei Influenzainfektionen beitragen.
Die aktuellen Daten zeigen, dass auch eine lokale (nicht systemische) Virusinfektion zu Veränderungen der Blutbildung im Knochenmark führen kann. Hierbei gebildete Thrombozyten können im hyperreaktiven Zustand zu einem höheren Risiko für Blutgerinnsel insbesondere in der Lunge führen. Dies hat möglicherweise einen bedeutenden Einfluss auf den Krankheitsverlauf der echten Grippe (Influenza).
Quelle: PEI
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