Impfungen sind eine der wirksamsten medizinischen Innovationen der Weltgeschichte. Sie haben dazu beigetragen, Infektionskrankheiten wie die Pocken auszurotten, die Verbreitung von Masern und Polio einzudämmen, und sie verhindern jedes Jahr Millionen von Todesfällen. Trotz der Wirksamkeit steht jedoch eine beträchtliche Anzahl von Menschen Impfstoffen nach wie vor skeptisch gegenüber – in einem Ausmaß, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon 2019 Impfverweigerung zu einem der zehn größten globalen Gesundheitsrisiken erklärte.
Höhere Mortalitätsrate
Wie die Corona-Pandemie seither veranschaulicht hat, stellt Impfskepsis – ein Spektrum von Einstellungen, welches von der Akzeptanz von Impfungen trotz Unsicherheiten darüber bis zur Ablehnung aller Impfstoffe reicht – ein Hindernis für eine ausreichend hohe Durchimpfungsrate dar und trägt zu höheren Mortalitätsraten bei.
Persönliches Gespräch am effektivsten
Eines der effizientesten Mittel gegen Impfskepsis ist verblüffend naheliegend: persönliche Gespräche zwischen Patienten und medizinischem Fachpersonal. Menschen mit einer Abneigung gegen das Impfen schenken Argumenten pro Impfung eher Glauben, wenn ihnen diese von Angesicht zu Angesicht präsentiert werden. Allerdings ist es wichtig, dass Mediziner gut vorbereitet in solche Gespräche gehen und auf Sorgen und Bedenken ihrer Gegenüber zielgerichtet eingehen können.
Perfekt vorbereiten
Eine Hilfestellung dazu soll ein interdisziplinäres Projekt leisten, dessen erste Ergebnisse nun in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Human Behaviour“ veröffentlicht wurden. Im Team um den australischen Kognitionspsychologen Stephan Lewandowsky sind Forschende aus Portugal, Großbritannien, Australien und Deutschland vertreten, die in den Bereichen Psychologie und Kognitionswissenschaft arbeiten. Von der TU Darmstadt sind Prof, Iryna Gurevych und Doktorand Luke Bates beteiligt, die am Ubiquitous Knowledge Processing (UKP) Lab zu Natural Language Processing (NLP) und Machine Learning forschen. Sie haben in einer Taxonomie die meistverbreiteten Vorurteile und Argumente zusammengetragen, die mit Impfskepsis einhergehen und diese auch sprachwissenschaftlich analysiert.
Typische Vorurteile und Argumente
Der Beitrag der Darmstädter Forschenden bestand dabei in der Datenanalyse von Internetquellen und wissenschaftlichen Artikeln mithilfe sogenannter Sentence Transformers. Dabei handelt es sich um Deep-Learning-Modelle, die Sätze oder Textpassagen in Vektor-Repräsentationen konvertieren. Eines der Modelle, SetFit, entstand unter Mitwirkung des UKP Labs. Mit seinem Einsatz gelang es, die Argumentationsstrukturen und -zusammenhänge, die in der impfskeptischen Szene verbreitet sind, besser zu entschlüsseln. Die Analyse erlaubt vor allem, besser die unterschiedlichen Gründe zu identifizieren, die Menschen von einer Impfung abhalten, und welche Bedenken bei ihnen adressiert werden sollten: So dürften Personen mit einer Phobie anderen Argumenten zugänglich sein als Gruppen, die Impfungen aus politischen oder religiösen Motiven heraus ablehnen – oder Menschen, die Verschwörungsmythen anhängen.
Präzisere Ergebnisse
Beeindruckend war für das Team, dass die Modelle präzisere Ergebnisse lieferten, wenn sie mit Fachliteratur zum Thema trainiert wurden. Insgesamt 152 wissenschaftliche Artikel über Impfskepsis wurden bei der Arbeit berücksichtigt und in die Sprachmodelle eingepflegt. In der Folge gelang es den Modellen, impfskeptische Erzählmuster und Weltbilder auch zu identifizieren, wenn über sie in Fact-Checking-Artikeln berichtet wurde – ein wichtiger Schritt dabei, sie auch in anderen Internettexten wie Foren-Threads und in sozialen Medien wiederzuerkennen. “Die Systeme werden durch den Input aus akademischen Artikeln über Anti-Impf-Diskurse geschickter darin, genau diese Diskurse in den Rohdaten zu erkennen – eine Transferleistung, für die üblicherweise menschliche Annotator:innen erforderlich sind“, erklärt die Leiterin des Projekts an der TU Darmstadt, Professorin Gurevych.
Fehlinformationen entkräften
Zukunftsweisend dürfte die enge Zusammenarbeit zwischen Forschenden aus Geistes- und Technikwissenschaften sein. “Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, Fehlinformationen direkt zu begegnen”, betont Luke Bates, Doktorand am UKP Lab und am Hessischen Zentrum für Künstliche Intelligenz (hessian.ai): “Zu diesem Zweck ist es wichtig, dass Forschenden auf dem Gebiet des maschinellen Lernens und Natural Language Processing eng mit jenen aus Disziplinen zusammenarbeiten, die ein tiefes Verständnis für die mit diesem Problem verbundenen Inhalte und die davon betroffenen Menschen haben.” Das langfristige Ziel des Projektes ist es, in Zukunft gezielt Gegenargumente und andere Maßnahmen zu entwickeln, die sich mit den zugrundeliegenden Motiven der Impfgegner befassen
Beteiligt an der Studie waren Forschende der Universidade de Coimbra in Portugal, der Universitäten Erfurt und Potsdam, des Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin Hamburg, der University of Bristol und der University of Essex in Großbritannien, der University of Western Australia Perth sowie des UKP Lab der TU Darmstadt.
Quelle: idw/TU Darmstadt
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