Das Nebennierenkarzinom ist ein besonders bösartiger Tumor, an dem häufig junge Erwachsene und bisweilen sogar Kinder erkranken. Es gilt als seltenes Leiden; jährlich treten in Deutschland 80 bis 120 neue Fälle auf. Die Sterblichkeit ist hoch, denn auch nach der kompletten chirurgischen Entfernung des Tumors tritt er bei rund 60 bis 70 Prozent der Patienten erneut auf. Kaum besser ist der Erfolg der zurzeit einzigen zugelassenen medikamentösen Therapie: Nur etwa 20 bis 30 Prozent der Patienten profitieren langfristig davon, sodass häufig weitere Therapien notwendig sind.
Eine neue europäische Leitlinie bietet jetzt erstmals Medizinern wichtige Informationen zur Behandlung des Nebennierenkarzinoms. Sie ist damit zentrale Hilfe für Ärzte bei der Entscheidung über den optimalen Diagnose- und Therapieweg. Federführend beteiligt an der Entwicklung dieser Leitlinie waren Wissenschaftler der Universität und des Universitätsklinikums Würzburg unter der Verantwortung von Prof. Martin Fassnacht. Der Mediziner ist Leiter des Schwerpunkts „Endokrinologie und Diabetologie“ an der Medizinischen Klinik I.
„Wir haben vier klinische Hauptfragen definiert, die wir für das Management der an einem Nebennierenkarzinom erkrankten Patienten als besonders wichtig erachten, und anschließend wurden von Methodikexperten systematische Literaturrecherchen durchgeführt“, beschreibt Martin Fassnacht das Vorgehen der Wissenschaftler bei der Entwicklung der Leitlinien. Im Mittelpunkt dieser Fragen standen beispielsweise Marker, die sich für eine Prognose eignen, geeignete Diagnoseverfahren und Therapien, die vor beziehungsweise nach einer Operation notwendig sind, sowie Behandlungsoptionen für unvollständig entfernte oder nach einer Operation wieder aufgetretene Tumoren.
61 konkrete Empfehlungen
Davon ausgehend haben die Wissenschaftler Leitlinien zur Diagnostik und Therapie des Nebennierenkarzinoms entwickelt, die 61 konkrete Empfehlungen umfassen. Am Anfang dieser Leitlinien steht die Empfehlung, dass alle Patienten mit vermutetem oder nachgewiesenem Nebennierenkarzinom in einem multidisziplinären Expertenteam – sogenannten Tumorboards – besprochen werden. Hierbei sollten idealerweise jeweils in Nebennierentumor erfahrene Ärzte aus folgenden Disziplinen vertreten sein: Endokrinologie, Onkologie, Pathologie, Radiologie und Chirurgie. Darüber hinaus sollte dieses Team Zugang zu Expertise in interventioneller Radiologie, Strahlentherapie, Nuklearmedizin und Genetik sowie zu Palliativpflegeteams haben.
Ein weiterer Punkt aus dieser Liste besagt, dass nur Chirurgen mit Erfahrung in der Nebennieren- und der onkologischen Chirurgie die entsprechenden Operationen durchführen sollen mit dem Ziel einer vollständigen Entfernung des Tumorgewebes. Diese Expertise sei „aufgrund der spezifischen Anatomie, des bösartigen Charakters der Erkrankung und der potenziellen Notwendigkeit einer kompletten Entfernung mehrerer Organe“ erforderlich, heißt es in den Leitlinien. Bei Patienten, die ein hohes Rückfallrisiko tragen, empfehlen die Wissenschaftler außerdem eine begleitende, vorbeugende medikamentöse Behandlung.
76 Seiten sind die neuen europäischen Leitlinien zur Behandlung des Nebennierenkarzinoms in ihrer Rohfassung stark. Sie versammeln das aktuell auf diesem Gebiet vorhandene Wissen und leiten daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen ab. Trotzdem weisen die Autoren selbst auf deren Grenzen hin: „Da die Evidenz für die meisten der in diesen Leitlinien enthaltenen Empfehlungen schwach oder sogar sehr schwach ist, besteht kein Zweifel daran, dass große Anstrengungen erforderlich sind, um Diagnose, Behandlung und Lebensqualität für Patienten mit Nebennierenkrebs in Zukunft deutlich zu verbessern“, heißt es am Ende der Leitlinien.
Unter „vielen wichtigen Forschungsfragen“ haben die Wissenschaftler deshalb zehn Themen als besonders wichtig ausgewählt. Diese sollten dringend in einer internationalen, interdisziplinären Zusammenarbeit erforscht werden. Das wichtigste an dieser Leitlinie ist, laut Martin Fassnacht, dass sie nun existiert und damit alle Patienten weltweit die Möglichkeit haben, nach den gleichen, aktuell gültigen Standards behandelt zu werden.
Quelle: Universitätsklinikum Würzburg, 27.07.2018
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