Der Arzt und Anatom Friedrich Sigmund Merkel (1845–1919)

Mechanorezeption: Merkel-Zellen
Christof Goddemeier
Porträt Friedrich Siegmund Merkel in der Rubrik „Historisches“
Friedrich Merkel Foto: Peter Matzen, Voit Collection, gemeinfrei, wikimedia
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In Deutschland folgte auf die Aufklärung die Romantik, eine neue, philosophisch begründete Auffassung der Natur. Ihre Grundlage bildete die Naturphilosophie Friedrich Wilhelm Schellings (1775–1854). Ihr zufolge sind Natur und Geist letztlich identisch. Demnach können die Naturgesetze nicht durch Beobachtung erkannt werden, sondern ihnen liegen allgemeine geistige Prinzipien zugrunde. Damit suchte man über das Materielle hinaus Wesen und Idee eines einheitlichen Ganzen zu erfassen.

Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts besann sich die Medizin wieder auf ihre naturwissenschaftlichen Wurzeln. „Die Medizin kann wahre Fortschritte nur dadurch machen, daß (sic!) die ganze Physik, Chemie und alle Naturwissenschaften auf sie angewendet, und daß (sic!) sie auf die gegenwärtig erstiegene Höhe derselben gestellt und mit ihren glänzenden Fortschritten in Übereinstimmung gebracht werde“, schrieb der Berliner Physiologe Johannes Müller (1801–58). Zu seinen Schülern zählten beinahe alle bedeutenden Forscher auf den Gebieten der Anatomie, Pathologie und allgemeinen Biologie, etwa Jakob Henle (1809–85), der die nach ihm benannten Henleschen Schleifen in der Niere entdeckte. Auch Albert von Koelliker und Johannes Purkinje trugen wesentlich dazu bei, die normale und pathologische Histologie zu erschließen. Grundlage waren exakte Beobachtung und Beschreibung sowie quantitative Messungen. Friedrich Merkel war Schüler und später Schwiegersohn Jakob Henles.

Die nach ihm benannten Zellen gehören zu den sogenannten Mechanorezeptoren, das sind Rezeptoren in der Haut, die äußeren Tastpunkten entsprechen. Davon gibt es in der behaarten und unbehaarten Haut von Menschen und Affen, aber auch anderen Säugetieren drei Haupttypen mit myelinisierten Afferenzen: Druckrezeptoren (Intensitätsdetektoren) reagieren auf Druck und adaptieren langsam auf den entsprechenden Reiz. Berührungsrezeptoren (Geschwindigkeitsdetektoren) registrieren die Berührung von Haaren und unbehaarter Haut, wobei die Intensität der Empfindung von der Geschwindigkeit der Haarbewegung oder der Eindruckgeschwindigkeit abhängt. Vibrationsrezeptoren (Beschleunigungsdetektoren) schließlich antworten auf einfach oder mehrfach überschwellige Reize lediglich mit einem Impuls. Sie adaptieren sehr schnell. Beschleunigungsdetektoren sind die sogenannten „Pacini-Körperchen“ (auch: „Vater-Pacini-Körperchen“), Geschwindigkeitsdetektoren der unbehaarten Haut werden „Meissner-Körperchen“ oder „Meissnersche Tastkörperchen“ genannt. Die langsam adaptierenden Intensitätsdetektoren der unbehaarten Haut sind die „Merkel-Zellen“. In seiner Arbeit „Über die Endigungen der sensiblen Nerven in der Haut der Wirbeltiere“ beschrieb Friedrich Merkel sie 1880 erstmals.

Heirat von Anna Henle

Merkel wurde 1845 als jüngstes Kind des Apothekers Conrad Merkel und seiner Frau Clara in Nürnberg geboren. Nach dem Abitur studierte er Medizin in Erlangen und Greifswald. Sein älterer Bruder, praktischer Arzt in Nürnberg, empfahl ihm die Göttinger Universität. Hier lehrte Jakob Henle, bei dem Merkel seine Kenntnisse in mikroskopischer Anatomie vertiefte. Nach seiner Rückkehr nach Erlangen wurde er dort 1869 mit der Arbeit „Über die Macula lutea des Menschen und die Ora serrata einiger Wirbeltiere“ promoviert. Im gleichen Jahr trat er bei Henle eine Stelle als Prosektor an. 1870 habilitierte er sich mit der Schrift „Die Zonula ciliaris“ für Anatomie und heiratete Anna Henle, eine Tochter Jakob Henles. Die beiden hatten sechs Kinder, zwei der drei Söhne fielen im Ersten Weltkrieg. 1872 erhielt Merkel einen Ruf an die Universität Rostock, wo er elf produktive Jahre verbrachte, drei davon als Rektor. Nach zwei Jahren in Königsberg kehrte er nach Göttingen zurück und wurde nach Henles Tod 1885 dessen Nachfolger.

Schwerpunkt von Merkels Werk liegt in der Anatomie und seinen Beiträgen zur Embryologie. In seiner Rede zum 100. Geburtstag Jakob Henles zeichnete er die Entwicklung seines Fachs nach und würdigte etwa Xavier Bichat (1771–1802) und Albrecht von Haller (1708–77). Bichat beschrieb 1801 die Gewebeformen, die in allen Organen anzutreffen waren: „So kam denn Bichat zu der Anschauung, dass die verschiedenen Gewebe ebensoviele mit besonderen Kräften begabte Stoffe wären, durch deren Zusammentreten die Organe gebildet werden und von deren Eigenschaften die Wirksamkeit der Organe abhänge (...)“ Damit war die pathologische Anatomie einen wesentlichen Schritt vorangekommen. Hallers Lehre von der Irritabilität und Sensibilität charakterisierte und unterschied Muskel- und Nervengewebe. Merkel zufolge blieben die einzelnen Untersuchungen jedoch „ohne inneren Zusammenhang“, bis „dann Henle durch seine ‚allgemeine Anatomie‘ das verbindende Band um sie schlang und ein System aufstellte, welches bis heute nach fast 70 Jahren noch seine Bedeutung hat“. Doch „die Lehre von der Entstehung der Zellen“, die „allerfundamentalste Tatsache der allgemeinen Biologie“, sei Henle verborgen geblieben. Erst ein Jahrzehnt später habe sich die Anschauung durchgesetzt, dass es eine „freie Zellbildung“ nicht gebe, „bis dann endlich Virchow mit seinem bekannten Schlagwort: ‚Omnis cellula e cellula‘ (Jede Zelle aus einer Zelle) alle Zweifel abschnitt“. Die Medizin ist für Merkel „eine biologische Disziplin und gerade sie hat alle Ursache, die Resultate, Hilfsmittel und Methoden der Physik und Chemie auf das Intensivste auszunutzen. In Momenten, wo sie dies vergißt (sic!) oder nur wenig beachtet, kommt sie auf Abwege.“ Der „spekulative[n] Philosophie“ Schellings und der Homöopathie Samuel Hahnemanns erteilt Merkel eine Absage: „Ich schweige ganz von der kritiklosen und unwissenschaftlichen Homöopathie, welche zu jener Zeit ihr Haupt erhob (...), da das Gesagte genügen dürfte, um den trostlosen Tiefstand der damaligen Medizin zu charakterisieren.“ Ein wesentliches wissenschaftliches Verdienst Henles besteht Merkel zufolge in dessen „Handbuch der systematischen Anatomie des Menschen“ (1856–73). Hier habe er „in dem Irrgarten der alten Nomenklatur feste, leicht kenntliche Wege gezogen“ (Walther Flemming).

Handbuch der topographischen Anatomie

Schon 1891 hatte Merkel die Bedeutung einer einheitlichen Nomenklatur hervorgehoben: „(...) in anatomischen Publicationen aber wird ebenfalls jeder Autor, um gelesen zu werden, die lateinische Bezeichnung mindestens beizuschreiben genöthigt sein. Die Wissenschaft, wenigstens die medicinische, soll und darf keine nationale sein, sie kann ihren rein internationalen Charakter aus den nächstliegenden Gründen niemals einbüßen.“ Eine „bedeutungsvolle Neuerung“ in Henles Handbuch war laut Merkel zudem die „Einfügung von Abbildungen“, was während der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht üblich gewesen sei: „Die ganz neue und eigenartige gegenseitige Durchdringung von Wort und Bild hat ihre Wirkung auf das Publikum nicht verfehlt.“ Merkel beklagte indes: „Neuerdings hat sich gegen die Zeit vor Henle die Sache sogar in der Art umgekehrt, daß die Lernenden, in das andere Extrem verfallend, bei ihren Studien nicht selten den Text ihrer Lehrbücher vernachlässigen und sich im wesentlichen an die Bilder halten.“ Für Merkel wird „das Henlesche Handbuch (...) für immer als das klassische Werk und das geschichtliche Denkmal der deutschen Anatomie des 19. Jahrhunderts dastehen“. Bei dieser großen Wertschätzung für seinen Lehrer und Schwiegervater überrascht es nicht, dass Merkel Henles „Grundriss der Anatomie des Menschen“ überarbeitete und neu herausgab. Zudem würdigte er Henles Leben und Werk in einer umfassenden Biografie. 1885 bis 1907 erschien Merkels „Handbuch der topographischen Anatomie“. Seinen Studenten widmete er die „Anatomie des Menschen mit Hinweisen auf die ärztliche Praxis“ (1913–18). In der Vorbemerkung zum Atlas „Haut, Sinnesorgane und nervöse Zentralorgane“ (1917) verwies er auf die technischen Herausforderungen der Darstellungen und verschwieg den Einfluss des Krieges auf die Entstehung des Werkes nicht: „Der Künstler, welcher die Abbildungen zu den bisherigen Abteilungen ausgeführt hatte, wurde zum Heere einberufen, nachdem die Abbildungen zu den Sinnesorganen vollendet waren. An seine Stelle trat für das Zentralnervensystem Herr Zeichenlehrer Grosse, welcher schon in den früheren Abteilungen die Mehrzahl der mikroskopischen Zeichnungen angefertigt hatte.“ Und in der Vorbemerkung zum Text der „Fünften Abteilung Haut, Sinnesorgane und nervöse Zentralorgane“ (1917) heißt es: „Die Ausgabe erfolgt erheblich später als es die Absicht des Autors und des Verlegers war. Wir glauben jedoch, deshalb einer besonderen Entschuldigung nicht zu bedürfen, da der Krieg, welcher so viele Arbeiten des Friedens hindert und stört, seinen Einfluss auch auf dieses Buch ausübt.“

Beschreibung der Merkel-Zellen

Hier beschrieb Merkel auch die nach ihm benannten Zellen: „Betrachten wir zuerst die Sinneseinrichtungen in der Haut, dann ist zu sagen, dass man in ihr sowohl freie Endigungen, als auch mit zelligen Endorganen versehene findet. (...) Seit Langerhans (1868) kennt man in der Epidermis außerdem reich verästelte Zellen, welche nach ihm wahrscheinlich mit Nervenzellen zusammenhängen. Häggqvist konnte diesen Zusammenhang tatsächlich darstellen. An der Grenze von Epidermis und Corium, bald genau an dieser Grenze, bald ein wenig in die tiefste Schicht des Stratum germinativum, bald in die äußerste Schicht des Corium verschoben, findet man die Tastzellen, helle, blasige, scharf umrandete Zellen von meist ovaler Gestalt mit deutlichem rundem Kern (...) Die herantretende Nervenfaser legt sich mit einer schalenförmigen Verbreiterung (Tastmeniskus) an sie an. Ihrer Abstammung nach sind sie Zellen des Stratum germinativum der Epidermis, welche bei der Entwickelung (sic!) durch die Berührung mit dem Ende der Nervenfaser zu charakteristischen Tastzellen umgewandelt werden. Sie sind nicht überall gleich zahlreich, in großer Zahl findet man sie z. B. am roten Lippenrand, weniger zahlreich an den Extremitäten. Pincus (1902, 1903) sieht sie in größerer Zahl in kleinen, eben noch makroskopisch sichtbaren scheibenförmigen Stellen in unmittelbarer Nähe vieler Lanugohaare, er nennt sie ‚Haarscheiben‘. In der Umgebung der Tastzellen endet noch eine zweite feine Nervenfaser in der Form eines perizellulären Netzes. (...) An die Tastzellen schließen sich die Tastkörperchen, Corpuscula tactus Meißneri an (...)“ Neben den von Merkel erwähnten „Haarscheiben“ oder „Pinkus-Iggo-Tastscheiben“ findet sich in den tieferen Schichten der Dermis noch ein weiterer langsam adaptierender Rezeptor, die „Ruffini-Körperchen“.

Merkel lehrte und forschte in Göttingen 34 Jahre lang, zwei davon als Rektor. 1919 wollte er seine universitäre Tätigkeit zum Ende des Sommersemesters beenden und bat um entsprechende Entpflichtung. Doch vor Ende des Semesters starb er an den Folgen eines Schlaganfalls.


Literatur

1. Merkel F: Jacob Henle: ein deutsches Gelehrtenleben; nach Aufzeichnungen und Erinnerungen. Braunschweig: Verlag Friedrich Vieweg und Sohn 1891.

2. Merkel F: Die Anatomie des Menschen. Mit Hinweisen auf die ärztliche Praxis. 6 Abteilungen in 11 Bänden. Wiesbaden: Verlag J.F. Bergmann 1913–8.

3. Merkel F: Jakob Henle: Gedächtnisrede gehalten im Anatomischen Institut zu Göttingen am 19. Juli 1909, dem hundertsten Geburtstag des Gelehrten. Braunschweig: Verlag Friedrich Vieweg und Sohn 1909.

4. Schmidt R, Thews G: Physiologie des Menschen. Berlin: Springer-Verlag, 22. Aufl. 1985.

5. Seidler E: Geschichte der Pflege des kranken Menschen. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 5. Aufl. 1980.

6. wikipedia: Friedrich Merkel. Online (last accessed on 4.8.2022).

7. Zimmermann V: Merkel, Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie, Band 17. Berlin: Duncker und Humblot 1994, S. 145 f.

 

Entnommen aus MTA Dialog 10/2022

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