„Ein Genie irrt seltener ...“

Der Biochemiker, Arzt und Physiologe Otto Warburg (1883–1970) – Nobelpreis 1931
Christof Goddemeier
„Ein Genie irrt seltener ...“
Otto Warburg im Oktober 1931 in seinem Labor © Bundesarchiv, Bild 102–12525/Georg Pahl/CC-BY-SA 3.0, wikimedia
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Mehr als 500 Veröffentlichungen sowie etliche grundlegende Entdeckungen und methodische Neu- und Weiterentwicklungen dokumentieren Warburgs besondere Stellung in der wissenschaftlichen Welt.

Die Londoner „Times“ zeigte im Januar 1938 auf ihrer ersten Seite den Tod des Nobelpreisträgers Otto Warburg an, gefolgt von einer ausführlichen Würdigung. Warburg las die „Times“ regelmäßig, vermutlich las er also seinen Nachruf selbst. Wieder einmal war er mit dem Agrarbotaniker Otto Warburg (1859–1938) verwechselt worden, einem entfernten Verwandten, der als Professor bis zu seinem Tod an der Universität Jerusalem lehrte. Warburg vermutete die Autoren der „Würdigung“ am Institute of Biochemistry in Cambridge und schrieb ein Telegramm: „Thanks for condolence. Rather disappointed with my poor obituary.“ Wichtige seiner Entdeckungen wurden nämlich in dem Nachruf nicht erwähnt. Die Verwechslungen nahm er mit Humor: „Der aeltere gentleman, den ich nicht kenne (...) hat schon viel Verwirrung in meinem Leben angerichtet. Seine Existenz ist fast eine Beeinträchtigung meiner Individualität.“

Nach seinem Tod 1970 würdigten zahlreiche Nachrufe Warburgs Lebensleistung und beschrieben ihn als „Kaiser von Dahlem“, „Architekt der modernen Naturwissenschaften“, „Meister in der Kunst des Experiments“. Samuel Rapoport bezeichnete ihn gar als „bedeutendsten Naturwissenschaftler auf dem Gebiet der experimentellen Biologie des 20. Jahrhunderts“ und stellte ihn in eine Reihe mit „Galilei, Pasteur und Einstein“. Adolf Butenandt sah in ihm den „größten Biochemiker unserer Zeit (...), auch wenn nicht alle Schlussfolgerungen, die er aus seinen genialen Experimenten gezogen hat, von allen Fachleuten gleichermaßen angenommen wurden. (...) Es wäre möglich, die gesamte Geschichte der Biochemie (...) an Otto Warburgs Werk aufzuzeigen.“

Mehr als 500 Veröffentlichungen sowie etliche grundlegende Entdeckungen und methodische Neu- und Weiterentwicklungen dokumentieren Warburgs besondere Stellung in der wissenschaftlichen Welt. Dabei hatte er klare Vorstellungen davon, wie man wissenschaftlich arbeiten sollte: Am besten geeignet schien ihm ein eigenes Institut als „Ein-Mann-Forschungsbetrieb“ (P. Werner). Eine kollektive Arbeitsweise entsprach ihm nicht. 1962 schrieb er in einem Brief: „Die Erfahrung hat gelehrt, dass grundlegende (...) Entdeckungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften nicht von Directoren großer Institute gemacht werden (...), sondern von denjenigen, die ihre ganze Zeit ihren Forschungsarbeiten (...) widmen können. (...) Ich weiß, dass nur wenige bereit sind, auf die Dauer von morgens bis abends in einem Laboratorium zu arbeiten. Andererseits gibt es keinen andern Weg zum Erfolg.“ Seiner Schwester Lotte gegenüber formulierte er: „Das Geheimnis des Lebens ist, dass man alles tut, was der eigenen Natur und Persönlichkeit angemessen ist, dass man nie etwas tut, was gegen die eigene Natur und Person gerichtet ist.“

Otto Warburg wurde 1883 in Freiburg im Breisgau geboren. Der Vater Emil Warburg war ein bekannter Physiker, der vom jüdischen zum protestantischen Glauben übertrat. Der Name rührt von der Stadt Warburg, die heute im Landkreis Höxter in Westfalen liegt. Auch die Mutter Elisabeth entstammte einer traditionsreichen Familie. Die vier Kinder bewunderten ihren Vater als bedeutenden Wissenschaftler, kritisierten jedoch, dass er eine Familie gegründet hatte, weil er ausschließlich mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen sei.

Otto besuchte zunächst das Gymnasium in Freiburg und machte nach dem Umzug nach Berlin dort sein Abitur. Im Elternhaus lernte er etliche bedeutende Wissenschaftler kennen, die damals in Berlin lebten, etwa Fritz Haber, Jacobus van’t Hoff, Walther Nernst, Max Planck und Albert Einstein. Die Begegnungen prägten ihn maßgeblich. Hier fand er wohl auch erste Anregungen für sein wissenschaftliches Thema, die biologische Oxydation. Später schrieb er: „Das Wichtigste in der Laufbahn eines jungen Naturwissenschaftlers ist enger Kontakt mit den großen Gelehrten seiner Zeit.“ 1903 nahm der Chemiker Emil Fischer ihn in sein Labor auf. Der hatte ein Jahr zuvor für seine Arbeiten über Purinkörper und Kohlenhydrate den Nobelpreis für Chemie erhalten. Warburg war von Fischers Persönlichkeit und seinen Leistungen als Universitätslehrer und Forscher begeistert.

Er studierte einige Semester Chemie und wandte sich dann der Medizin zu. 1905/06 wurde er mit einer bei Fischer verfertigten Arbeit über die Bildung optisch aktiver Peptide und ihre katalytische Hydrolyse zum Dr. phil. promoviert. Sein Medizinstudium setzte Warburg in München und Heidelberg fort. Hier traf er auf den Internisten und Pathophysiologen Ludolf von Krehl, der auch die klinische Medizin als exakte Naturwissenschaft verstand und betrieb. Von ihm lernte Warburg die „Wissenschaft vom Leben“. Unterbrochen durch zwei Arbeitsaufenthalte in der Zoologischen Station in Neapel beendete Warburg sein Medizinstudium 1911 mit einer Arbeit „Über die Oxydationen in lebenden Zellen nach Versuchen am Seeigelei“. Da er Medizin nach einem besonderen Studienplan studiert hatte, schied eine Approbation als Arzt aus. Bereits ein Jahr später habilitierte er sich mit der Schrift „Über die energieliefernden Reaktionen in lebenden Zellen“. Mit diesen beiden Arbeiten legte er den Grundstein für sein Lebenswerk.

Mangelndes Selbstbewusstsein war seine Sache nicht. Im Alter von 83 Jahren beschrieb er als das ihn leitende Thema, „wieweit sich Lebensvorgänge auf Physik und Chemie zurückführen lassen“. Dabei entdeckte er „die chemische Natur der Fermente, der Wirkstoffe des Lebens (...) Ich entdeckte den chemischen Mechanismus der Zellatmung, den chemischen Mechanismus der Wasserstoffübertragung im Leben und damit den Mechanismus aller Gärungen. Ich entdeckte die Quantenchemie der Photosynthese und schließlich, auf medizinischem Gebiet, die allgemeine und letzte Ursache des Krebses.“ (1966)

Der schottische Physiker James Maxwell schrieb 1877: „Der wichtigste Schritt in dem Fortschritt einer jeden Wissenschaft ist das Messen von Größen.“ Das machte Warburg sich zu eigen und begründete mit einer neuen Methodik die quantitative Zellbiologie. Sein Vater benutzte ein Differentialmanometer, um die Geschwindigkeit der Ozonbildung zu messen. John Haldane und Joseph Barcroft konstruierten daraus ein Blutgasmanometer, mit dem sie den an Hämoglobin gebundenen Sauerstoff und die Kohlendioxidmenge im Blut erfassen konnten. Warburg entwickelte es 1919 so weiter, dass sich auch die Geschwindigkeit des Gasaustausches messen ließ.

Aus der Absorptionsänderung von Pyridinnukleotiden bei 340 Nanometer leitete Warburg etliche optische Tests ab, mit denen man die Geschwindigkeit von Reaktionen sowie die Konzentration von Metaboliten bestimmen konnte. Mittels Differentialzentrifugation fand er, dass die „Granula“ aus Lebergewebe die Orte der Zelle sind, an denen Sauerstoff aufgenommen wird. Heute wissen wir, dass es sich bei Warburgs „sauerstoffatmenden Körnchen“ um Mitochondrien handelt. Zur Messung der Atmung von Krebszellen entwickelte er eine Technik, mit der er weniger als 0,5 mm dicke Schnitte anfertigen konnte. 1927 fand er eine Methode, mit der sich kleinste Mengen Eisen und Kupfer im Blut bestimmen ließen, und entdeckte, dass diese sich während der Schwangerschaft sowie bei Infektionen und Anämien verändern. Zudem entdeckte er die Enzyme Lactat-Dehydrogenase und Aldolase und ihre Funktionen in der Zelle. Und in der Forschung zur Photosynthese führte er entscheidende Neuerungen ein, etwa die Methode der alternierenden Belichtung und die manometrische Blitzlichtmethode.

Schon während seines Studiums äußerte Warburg, dass er etwas Bedeutendes zur Frage der Entstehung von Tumoren beitragen wolle. Bei seiner Forschung konzentrierte er sich darauf, was eine gesunde Zelle mit kontrolliertem Wachstum biochemisch von einer Krebszelle mit ungehemmtem Wachstum unterscheidet. Dabei richtete er seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Reaktionen, die die Energie für das Wachstum liefern. Mit seinen eigenen Methoden fand er, dass Krebszellen Sauerstoff verbrauchen wie gesunde Zellen, doch sie bilden große Mengen Milchsäure aus Glukose. Diese Glykolyse konnte erheblich zur Energieversorgung des Gewebes beitragen. Daraus folgerte Warburg, dass Krebszellen im Unterschied zu normalen Zellen die Fähigkeit verlieren, in Gegenwart von Sauerstoff die Glykolyse zu unterdrücken. 1930 formulierte er, dass eine Beeinträchtigung der Mitochondrienfunktion in Krebszellen der Hauptgrund des unkontrollierten Wachstums sei. Die „Warburg-Hypothese“ war jedoch umstritten.

Zwischen Mitte der 20er- und Ende der 30er-Jahre fand man die meisten der heute bekannten Vitamine. Neben Warburg forschten dazu Richard Kuhn, Hugo Theorell, Hans von Euler-Chelpin und Paul Karrer. Aus den USA nach Berlin zurückgekehrt, fand Warburg 1930 bei Versuchen mit Methylenblau zwei Komponenten, die als Enzym und Coenzym an der Wasserstoffübertragung beteiligt waren. Die Enzymkomponente wiederum bestand aus mindestens zwei Bestandteilen, einer farblosen und einer gelben. Die gelbe nannte Warburg „gelbes Ferment“ und identifizierte es als Luminoflavin. Es bestand aus einem spezifischen Protein und einem phosphorylierten Riboflavin. Dieses Flavinmononukleotid erwies sich als die katalytisch wirksame Gruppe einiger „gelber Fermente“. Bei den meisten gelben Enzymen ist die katalytisch wirksame Gruppe hingegen ein Flavin-adenin-dinukleotid, das Warburg 1938 entdeckte. 1934 stellte er das reine Coenzym dar und identifizierte Nicotinamid als katalytisch aktive Gruppe (heute NADP/NADPH-System) – eine Sternstunde in der Vitaminforschung, wenig später wurde Nicotin-amid als Anti-Pellagra-Vitamin „Niacin“ erkannt. Heute sind mehr als 150 Dehydrogenasen mit Nicotinamid als Wasserstoffüberträger bekannt.

1931 erhielt Warburg „für seine Entdeckung der Natur und Wirkungsweise des Atmungsferments“, das heißt des sauerstoffübertragenden Cytochrom-a/a3-Komplexes der mitochondrialen Atmungskette, den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten versuchte der jüdischstämmige Warburg, als „Mischling 1. Grades“ eingestuft zu werden. Mit kurzer Unterbrechung durch Amtsenthebung 1941 leitete er das Kaiser-Wilhelm-Institut für Zellphysiologie in Berlin-Dahlem bis 1967 (seit 1953 Max-Planck-Institut).

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Warburg seine Forschungen fort mit dem Ziel, eine wirksame Therapie gegen den Krebs zu finden. Aus seinen Versuchen mit Einzelzellen aus Maus-Aszites-Tumoren folgerte Warburg, dass eine irreversible Schädigung der Zellatmung und der Ersatz der Sauerstoffatmung durch die Gärung (aerobe Glykolyse) die „letzte Ursache des Krebses“ sei. 1959 nahm Manfred von Ardenne Warburgs Vorschlag auf, den Unterschied im Katalasegehalt von normalen und Krebszellen für eine Krebstherapie zu verwenden. Warburg vertrat noch 1966 in Lindau die Ansicht, dass man durch hoch dosierte Vitamin-B-Gabe eine Krebserkrankung verhindern könne. Daneben verfocht er konsequent, kanzerogene Stoffe zu meiden, etwa Zigarettenrauch, Abgase von Kraftfahrzeugen und chemische Nahrungsmittelzusätze.

Warburg arbeitete bis zu seinem Tod. Im 87. Lebensjahr starb er plötzlich an einer Lungenembolie. Eine offizielle Trauerfeier hatte er verboten. Daher versammelten sich auf dem Dahlemer Dorffriedhof lediglich einige seiner Schüler und Weggefährten, etwa Hugo Theorell, Feodor Leinen, Hans Krebs und Manfred von Ardenne.

Literatur

1.     Höxtermann E, Sucker U: Otto Warburg. Leipzig: BSB Teubner Verlagsgesellschaft 1989.
2.     Werner P: Ein Genie irrt seltener ... Otto Heinrich Warburg. Berlin: Akademie Verlag 1991.
3.     Werner P (ed.): Vitamine als Mythos. Berlin: Akademie Verlag 1998.


Entnommen aus MTA Dialog 12/2021

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