Biodiversitätsforschung: Referenzgenome von 98 Arten
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa ist es im Rahmen des Pilotprojekts des European Reference Genome Atlas (ERGA) in einem ersten Schritt gelungen, hochwertige Referenzgenome für 98 Arten zu erstellen. Dies wird als ein wichtiger Meilenstein im Vorhaben, eine Referenzgenom-Datenbank für alle europäischen Tiere, Pflanzen und Pilze zu schaffen, gewertet. Der ERGA baute ein großes Kooperationsnetzwerk von Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftlern und Institutionen aus 33 Ländern auf, um die hochwertigen Referenzgenome zu erstellen. Es könnte als Modell für dezentrale, integrative und gleichberechtigte Initiativen in der Biodiversitätsgenomik auf der ganzen Welt dienen, so die Hoffnungen. Harris Lewin, Vorsitzender des EBP Executive Council – Research Professor at ASU, sagte: „Das ERGA-Pilotprojekt ist ein bedeutender Meilenstein im Earth BioGenome Project (EBP) und ein großer Schritt nach vorn für die Biodiversitätsgenomik in Europa. Als erstes auf kontinentaler Ebene koordiniertes Biodiversitätsgenomprojekt hat ERGA zwei Grundprinzipien demonstriert, auf denen das EBP aufgebaut wurde – erstens, dass die Sequenzierungskapazitäten geografisch verteilt werden, und zweitens, dass jeglicher Nutzen aus den sequenzierten Genomen gerecht aufgeteilt werden würde. ERGA ist nun bereit, ihre Ziele zu erweitern und Tausende von Genomen zu sequenzieren, um die biologische Vielfalt in Europa zu erhalten und das Wachstum einer nachhaltigen Bioökonomie zu fördern.” Zu den Meilensteinen des Projekts gehören die ersten Genom-Assemblierungen auf Chromosomenebene – bei diesem Vorgang werden die Nukleotidsequenzen in die richtige Reihenfolge gebracht – von Arten aus Griechenland, einem der Länder mit der größten biologischen Vielfalt in Europa.
Daten für alle zugänglich
Arten wie die Kreta-Mauereidechse (Podarcis cretensis) und der Aristoteles-Wels (Silurus aristotelis) wurden von einheimischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Griechenland beprobt, um Genome zu erstellen, die nun für jedermann auf der ganzen Welt frei zugänglich sind und untersucht werden können. Dies seien nur zwei Beispiele dafür, was erreicht werden könne, wenn sich eine internationale Gemeinschaft von Forschenden zur biologischen Vielfalt zusammenschließe und die Zusammenarbeit innerhalb von und zwischen Ländern fördere, so die Forschenden. Das ERGA-Pilotprojekt verfolgte das Ziel, die Genomforschung und die dafür notwendigen Ressourcen für alle zugänglich zu machen, unabhängig von geografischen Grenzen. Für viele der teilnehmenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Länder habe das Projekt zum ersten Mal die Möglichkeit geboten, aktiv an der Erstellung von Referenzgenomen mitzuwirken und hochmoderne Ressourcen zur „Kartierung“ ihrer heimischen biologischen Vielfalt zu nutzen.
Praktischer Nutzen der Daten
Das ERGA-Pilotprojekt trage zudem dazu bei, die wachsende Bedeutung der Genomforschung für die biologischen Vielfalt in Europa und darüber hinaus zu verdeutlichen. Genomische Daten können ein immenses Potenzial für Erhaltungsmaßnahmen für gefährdete Arten bergen, aber auch für Entdeckungen zum Vorteil für die menschliche Gesundheit, Bioökonomie, Biosicherheit und für viele andere Anwendungen (genetische Ressourcen). Zu den im Rahmen des Projekts sequenzierten Arten gehört zum Beispiel der Goldlachs (Argentina silus), eine kommerziell wichtige Fischart aus dem Nordatlantik. Das neue Referenzgenom des Goldlachses soll es Forschenden ermöglichen, den genetischen Status von Populationen dieser Art genauer zu bewerten und letztendlich Managemententscheidungen zu treffen, die verantwortungsvolle und nachhaltige Fischereipraktiken sicherstellen könnten.
Erbkrankheiten besser erforschen
Eine der Arten, zu denen nun ebenfalls erstmalig ein qualitativ hochwertiges Referenzgenom vorliegt, ist der Seeadler (Haliaeetus albicilla). Mit diesem Referenzgenom soll es zukünftig beispielsweise möglich sein, Erbkrankheiten zu erforschen, für die bislang nur die Symptome bekannt sind. Dies gelte insbesondere für das so genannte „pinching-off syndrome“, so Greifvogel-Experte Dr. Oliver Krone vom Leibniz-IZW. Bei dieser Krankheit sind die Schwung- und Steuerfedern junger Seeadler missgebildet und machen das Fliegen unmöglich. Die Ursachen für diese Missbildung der Federn ist genetisch bedingt und wird in einem rezessiven Erbgang von beiden Elternvögel an die Jungvögel weitergegeben. Darüber hinaus gebe es viele Möglichkeiten, das Genom der Adler für phylogenetische Fragestellungen zu nutzen, so Krone weiter. Beispielsweise könnten Subpopulationen voneinander abgegrenzt oder isolierte Populationen identifiziert werden.
Sequenzierung des gesamten eukaryotischen Lebens auf der Erde
Überall auf der Welt gibt es ambitionierte Bestrebungen, das volle Potenzial von Genomdaten zu erschließen. Dabei spielt Vernetzung innerhalb der Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Das ERGA-Pilotprojekt könnte dabei als Vorbild dienen. Es zeigt auch die Vorteile für die biologische Vielfalt auf. Das Projekt wurde Anfang 2021 von der damaligen ERGA-Vorsitzenden Dr. Camila Mazzoni vom Leibniz-IZW und dem Berlin Center for Genomics in Biodiversity Research (BeGenDiv) mitinitiiert, die Calls mit hunderten Genomforschenden leitete, um das inklusiv und dezentral organisierte Kooperationsprojekt zu planen und aufzubauen. ERGA ist der europäische Knoten des global aufgestellten Earth BioGenome Project (EBP). Um sein ehrgeiziges Ziel – die Sequenzierung des gesamten eukaryotischen Lebens auf der Erde – zu erreichen, brauche das EBP eine weltweite Beteiligung und neue, dezentrale Modelle der Erstellung von Referenzgenomen. Das ERGA-Pilotprojekt konnte zeigen, dass ein vollständig verteiltes, kollaboratives und koordiniertes Modell der Genomerstellung nicht nur machbar, sondern auch effektiv sei – selbst auf kontinentaler Ebene und ohne eine zentrale Finanzierungsquelle. Der größte Teil des Projektbudgets sei von einzelnen Mitgliedern und Partnerinstitutionen vor Ort aufgebracht worden, mit zusätzlicher Unterstützung durch Sequenzierungspartner und kommerzielle Sequenzierungsunternehmen, die Zuschüsse, Rabatte und Sachleistungen gewährt hatten.
Herausforderungen meistern
Als Herausforderungen wurden beispielsweise rechtliche und logistische Hürden des grenzüberschreitenden Transports biologischer Proben, Gefälle in der Ressourcenausstattung zwischen den Ländern und die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Dezentralisierung und der Notwendigkeit der Standardisierung ausgemacht. Eine Standardisierung sei nötig, um zu gewährleisten, dass im Rahmen des Projekts nur Referenzgenome erstellt werden, die den Qualitätsstandards des EBP entsprechen. Der dezentralisierte Ansatz von ERGA sei jedoch vielversprechend für die Zukunft der Biodiversitätsgenomik. Der Erfolg des Pilotprojekts beim Aufbau einer Eigendynamik und der Zusammenführung von Forschern zeige die Stärke dieses Modells, so die Beteiligten im Fazit. Die im Rahmen des Pilotprojekts gewonnenen Erkenntnisse und bewältigten Herausforderungen sollen die Grundlage für künftige Bemühungen bilden, um robuste und standardisierte Arbeitsabläufe und eine umfassende genomische Datenbank für Arten in Europa und darüber hinaus zu fördern. Alice Mouton, Mitglied des ERGA Pilot Committee – former FNRS postdoctoral researcher, und scientific collaborator, University of Liege, betonte: „Als wir die Leitung dieses Projekts übernahmen, ahnten wir nicht, welches Ausmaß die Arbeit annehmen würde. Es war ein schwieriges Unterfangen, aber durch Beharrlichkeit und Teamarbeit ist es uns gelungen. Wir hatten auch die unschätzbare Unterstützung von Sequenzierungszentren, Universitäten und kommerziellen Unternehmen, die zum ERGA-Pilotprojekt beitrugen, indem sie Personal für die Erstellung von Bibliotheken, kostenlose Sequenzierung und Sachleistungen zur Verfügung stellten. Diese Erfahrung war wirklich einmalig.”
Quelle: idw/ Leibniz-IZW/BRH
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