Das Modellvorhaben ­Genomsequenzierung ist gestartet

Endlich: Die Genommedizin geht in die Versorgung!
Mirjam Bauer
Foto des Publikums
Abb. 1: Großes Interesse an der Veranstaltung © M. Bauer
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Bereits zum dritten Mal tagte im Juli 2024 das nationale Genomsymposium unter dem Motto „Genommedizin. Chancen nutzen. Menschen helfen.“ Die Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF e. V.), die als Koordinationsstelle fungiert, veranstaltete das Symposium im dbb forum, um die Herausforderungen der Genommedizin in Deutschland zu beleuchten.

Ein wichtiger Fokus lag zudem auf den europäischen Entwicklungen und der Schaffung einer vermehrten Aufmerksamkeit für die Genommedizin.

Das Modellvorhaben Genomsequenzierung (offizielle Bezeichnung: „Modellvorhaben zur umfassenden Diagnostik und Therapiefindung mittels Genomsequenzierung bei seltenen und bei onkologischen Erkrankungen“ gemäß § 64 e SGB V) bildet das Kernstück der Nationalen Strategie für Genommedizin. Es soll dazu beitragen, die Genommedizin in die Gesundheitsversorgung in Deutschland zu integrieren. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin­produkte (BfArM) als Plattformträger und das Robert Koch-Institut (RKI) als Vertrauens- und Treuhandstelle erläuterten in Berlin den aktuellen Stand dieses neuen Modellvorhabens. So zielt die nationale Strategie für Genommedizin – seit der Gründung durch das BMG im Jahr 2021 – darauf ab, die Genomsequenzierung von Patientinnen und Patienten in die Regelversorgung einzuführen, um genetisch gesicherte Diagnosen zu etablieren und personalisierte Präventionsmaßnahmen und Therapien zu ermöglichen.

Pünktlich am Folgetag der Veranstaltung stimmte der Bundesrat der Verordnung zum Modellvorhaben laut Genomdatenverordnung zu. Dementsprechend startete im Juli das Vorhaben an den beteiligten klinischen Zentren – bundesweit über einen Zeitraum von fünf Jahren bei Betroffenen mit Krebs und Seltenen Erkrankungen. Die Leistungen im Rahmen von 700 Millionen Euro werden durch die gesetzlichen Krankenkassen finanziert. Eine vorgesehene Evaluation am Ende der Laufzeit soll zeigen, wo die Mehrwerte liegen und wie ein Übergang in die Regelversorgung stattfinden kann. Die neue Verordnung beschreibt die Ausführungsbestimmungen zur Datenverarbeitung und zur technischen Ausgestaltung sowie zu Art und Umfang der Daten im Rahmen des Modellvorhabens Genomsequenzierung auf Grundlage des § 64 e Sozialgesetzbuch (SGB V). Dadurch wird eine wissensgenerierende Versorgung möglich, weil die entstandenen Daten in der Versorgung und Forschung genutzt werden dürfen. Daneben entsteht eine stärkere Vernetzung der nationalen Strukturen mit der Spitzenversorgung im Bereich der Genommedizin. Weitere Universitätsklinikstandorte sollen unterstützen, damit das Modellvorhaben deutschlandweit auf einheitlichem Niveau und mit denselben Standards angeboten werden kann.

Eröffnung durch Bundesgesundheitsminister

Stolz erklärte Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach bei der Eröffnung, die Genommedizin sei startklar, weil die jahrelange Pionierarbeit in den Leuchtturminitiativen der Genommedizin eine hervorragende Vorarbeit geleistet habe. So können Betroffene nun bundesweit von Sequenzierung und personalisierten Therapieempfehlungen profitieren; und das Überleben der Krebsbetroffenen könne signifikant verbessert werden. Ein wichtiger Bestandteil des Modellvorhabens sei auch dessen Evaluation. Die Genommedizin nutzt Sequenzinformationen für die genetische Diagnostik und klinische Interpretation der individuellen Erbinformation. Sie ermöglicht es, Diagnosen schneller und präziser zu stellen und unterstützt das medizinische Personal bei der Auswahl der optimalen Präven­tionsmaßnahmen und Therapien.

Der Bund finanziert die Rechenzentren, die klinischen Datenknoten und stellt die Dateninfrastruktur zur Verfügung: durch das BfArM und das RKI. Insgesamt habe das Projekt genomDE einen wesent­lichen Beitrag dazu geleistet, die Versorgung und Forschung in die Zukunft zu führen, betonte Matthias Mieves, Mitglied des Deutschen Bundestages, Sprecher für e-health der SPD-Fraktion und Mitglied im Gesundheitsausschuss sowie im Ausschuss für Digitales im Deutschen Bundestag, auf dem Symposium. Auch das am gleichen Tag beschlossene Medizinforschungsgesetz, das er sehr begrüßte, soll dazu beitragen, die datengestützte Medizin voranzubringen. Zudem soll die Verknüpfung von genomischen und klinischen Versorgungsdaten die Versorgung bereichern und nicht zuletzt soll der Forschungsstandort Deutschland gestärkt werden.

Filmvorstellung, Praxisbeispiele und Diskussion

Ferner stellten die Verantwortlichen in Berlin einen neuartigen genomDE-Erklärfilm zur Information der Bevölkerung vor. Er besteht aus einer Kombination zwischen Realfilm mit Interviews und Animationsfilm mit den wichtigsten Fakten zu den Themen Genommedizin und Genomsequenzierung. Via Youtube können der Film bit.ly/3XJCWtW und eine Playlist mit diversen Modulen bit.ly/3VN73xT abgerufen werden.

Humangenetikerin Prof. Dr. Nataliya Di Donato, Leiterin des Instituts für Humangenetik an der MH Hannover, vermittelte, dass die ultraschnelle Genomsequenzierung bei kritisch kranken Kindern von den betroffenen Eltern sehr positiv aufgenommen werde. Durch das Wissen um die Erkrankung beziehungsweise die geringe Lebenserwartung konnten sich die Familien besser auf die kurze gemeinsame Zeit einstellen, sie intensiv nutzen und auch die weitere Kinderplanung gegebenenfalls anpassen. Insgesamt habe die Sequenzierung bei Neugeborenen ein hohes Potenzial, weil sie die Behandlung von über 40.000 Babys pro Jahr in Deutschland verbessern könne.

Jens Bussmann, Generalsekretär des Verbands der Universitäts­klinika (VUD), beschrieb die politische Einordnung sowie die erfolgreiche Verhandlung des Vertrags zwischen GKV-Spitzenverband und VUD. Die Teilnahme aller gesetzlicher Krankenkassen, bundeseinheitliche Rahmenbedingungen und die einheitliche Vergütung seien wichtige Punkte. Dabei bestehe eine 50 : 50-Aufteilung zwischen Onkologie und Seltenen Erkrankungen. Bussmann lobte den richtigen Ansatz des Modellvorhabens und die zwar komplizierte, aber sachlich-konstruktive Vertragsverhandlung mit einem ausgewogenen und tragfähigen Abschluss für Patienten, Leistungserbringer und Krankenkassen. Einigkeit herrsche bei allen Beteiligten über einen möglichen Nachbesserungsbedarf während der Laufzeit. Diesen Worten stimmte auch Johannes Wolff vom GKV-SV zu und hob die neue datenbasierte Versorgungsform hervor, die nur bei erfolgreicher ­Evaluation in die Regelversorgung überführt werde. Die Beweislast ­liege dabei aufseiten der Universitätskliniken, die den patientenrelevanten Nutzen evaluieren müssen. Die Begleitung beinhalte jährliche Zwischenberichte und einen Abschlussbericht an das BMG.

Catharina Scholl, BfArM, und Anna Lübbe, RKI, erläuterten den Stand der Umsetzung und die Perspektive laut § 64 e SGB V, also wie durch die positive Evaluation die Verstetigung in die Regelversorgung gelingen soll. Zugelassene Zentren sind für onkologische Erkrankungen die Datenknoten in den Unikliniken Heidelberg, Köln und Tübingen. Bei hereditären Prädispositionssyndromen stehen das Universitäts­klinikum Carl Gustav Carus Dresden und die Universität Leipzig zur Verfügung, seltene Erkrankungen obliegen dem Universitätsklinikum Heidelberg. Eine Vernetzung und Anbindung des Modellvorhabens an die Krebsregister, das Forschungsdatenzentrum FDZ, europäische Genominitiativen und den Gesundheitsdatenraum EHDS sind perspektivisch geplant, zudem ist die Nutzung des internationalen Standards FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources) vorgesehen.

 

Stärkung der Wahrnehmung von Genommedizin

Prof. Dr. Christian Schaaf, Institut für Humangenetik in Heidelberg, stellte den schmalen Grat der genetischen Beratung an der Grenze von Hochtechnisierung und persönlicher Entscheidungsfindung vor. Es bestehe ein erheblicher Informations- und Aufklärungsbedarf rund um die hochkomplexe genetische Diagnostik. Die bereitgestellten Aufklärungsvideos würden von den Patienten gut angenommen und entlasteten in der Beratung, allerdings eher in weniger komplexen Fällen. Videos für standardisierbare Situationen wie familiärer Brust- und Eierstockkrebs sorgen für hohe Zufriedenheit mit der getroffenen Entscheidung und Zeitersparnis in den ärztlichen Teams. Hochkomplexe Vorgänge, etwa syndromale Erkrankungen, benötigten das persönliche Gespräch. Hier erreichen vorab bereitgestellte Videos keine Zeitersparnis für die Teams. Im Zeitalter der Genommedizin bedarf es einer Vergrößerung der „humangenetischen Workforce“, auch die Etablierung eines Berufsbilds „genetischer Fachberater“ wäre sinnvoll – möglicherweise auch ein Beruf für interessierte Technologinnen und Technologen?

Prof. Dr. Kerstin Rhiem, Universitätsklinikum Köln, erläuterte die genomische Kompetenz – also die Fähigkeit, genomische Informationen für gesundheitsbezogene Entscheidungen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden. Dafür sei ein grundlegendes Verständnis der Biologie, der Vererbung und eines Konzepts des persönlichen Datenmanagements erforderlich. Der Bedarf einer erhöhten „genomic literacy“ bestehe bei allen Beteiligten, ferner könne ein Online-­Curriculum speziell für Ärztinnen und Ärzte helfen. Auch ein Entscheidungscoaching durch spezialisierte Fachpflegende könne Betroffene aktiv in den Umgang mit ihrer Gesundheitssituation einbinden und sei eine effektive Ergänzung derzeitiger Versorgungskonzepte.

Bei der abschließenden Podiumsdiskussion zum Thema erfolgreiche Umsetzung von Genommedizin und qualitätsgesicherter Versorgung in der Zukunft war man sich einig. Es brauche mehr Information und ein grundlegendes Verständnis bei Hausärzten, daneben sei die Aufklärung in der Bevölkerung unumgänglich. Diese müsse wissen, dass die Genommedizin in bestimmten Fällen für gesetzlich Versicherte zur Verfügung stehe. Zuletzt sei mehr Wissensvermittlung bei den Humangenetikern nötig, denn laut einer Befragung ist das Projekt genomDE sogar bei Medizinstudierenden noch ziemlich unbekannt.

Sebastian C. Semler, Geschäftsführer der TMF e.V. und Leiter der Koordinationsstelle für genomDE, freute sich über die beachtliche Resonanz zum dritten Symposium: „Die Veranstaltung war ein großer Erfolg. Das Interesse an der genomischen Medizin erfährt eine immer größere Wahrnehmung, nicht nur in der Fachcommunity, sondern auch bei Patientinnen, Patienten und Interessenvertretungen. Das Projekt hat sich zu einer bedeutenden Plattform entwickelt und wir hoffen, dass wir mit vielen Akteuren, einem ‚Team Genommedizin in Deutschland‘, dieses Feld weiterentwickeln und den Anschluss in die europäischen Forschungsinfrastrukturen schaffen.“

 

Entnommen aus MT im Dialog 9/2024

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