Südtirol: Pestizide selbst in Schutzgebieten nachweisbar

Ausbreitung von Pflanzenschutzmitteln im Vinschgau
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Verteilung der Anzahl von Pestiziden in der Umwelt vom Vinschgau in Südtirol
Auf Basis der Funde an 53 Standorten (schwarze Punkte) wurde die Verteilung der Anzahl von Pestiziden in der Umwelt modelliert. © Jakob Wolfram, RPTU
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Eine aktuelle Studie zeigt, dass die in Südtirol eingesetzten Pestizide nicht auf der Anbaufläche bleiben, sondern im ganzen Tal bis in Höhenlagen zu finden sind. Diese Stoffe können sich schädlich auf die Umwelt auswirken.

Der Vinschgau, der mit dem Slogan „Kultur- und Genussregion inmitten der Erlebnisbergwelt Südtirols“ um Touristen wirbt, kommt durch den Pestizideinsatz der örtlichen Obstbauern in die Schlagzeilen. In der nördlichsten Provinz Italiens sind über 7.000 Apfelbauern tätig, die zehn Prozent aller europäischen Äpfel produzieren. Der konventionelle Anbau setzt bei der Bekämpfung von Schädlingen wie dem Apfelwickler und Pilzkrankheiten, die Schorf auf den Früchten auslösen, vor allem auf synthetische Pestizide, die mit Gebläse verteilt werden. Dadurch sei vor allem bei Wind eine hohe Abdrift in die Umgebung möglich, geben die Studienautoren zu bedenken.

Bisher kaum Daten vorhanden

Lange seien selbst Fachleute davon ausgegangen, dass die synthetischen Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im Wesentlichen in der besprühten Apfelanlage verbleiben. Grundlage dieser Annahme seien jedoch veraltete und weniger empfindliche Messmethoden und dass Pestizide abseits der Produktionsflächen einfach nicht erhoben wurden, erklärt nun Umweltwissenschaftler Carsten Brühl von der RPTU in Landau. Mit der modernen Analytik von heute kann man bis zu einhundert Pestizide gleichzeitig und auch in geringen Konzentrationen messen. Tatsächlich zeigen Studien, dass sich Pestizide deutlich über die landwirtschaftlich genutzte Fläche ausbreiten und etwa Insekten in Naturschutzgebieten belasten (Brühl, et al. 2022, Scientific Reports) oder in der Umgebungsluft fernab der Landwirtschaft zu finden sind (Zaller, et al. 2022, Science of the Total Environment). Im Vinschgau wurde bereits vor einigen Jahren ein Rückgang von Schmetterlingen auf den Bergwiesen beobachtet. Fachleute vermuteten einen Zusammenhang mit dem Einsatz von Pestiziden im Tal, aber es gibt kaum Studien zur Frage, wie weit aktuelle Pestizide tatsächlich transportiert werden und wie lange sie in Boden und Pflanzen verbleiben. Dies war der Anlass für Brühl und seinen Kollegen Johann Zaller von der BOKU, im Vinschgau die Verteilung von Pestiziden in der Umwelt zu untersuchen. Die Studie wurde von der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) und der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU) durchgeführt.

Alle 300 Meter Untersuchungsmaterial genommen

„Aus ökotoxikologischer Sicht ist das Vinschgauer Tal besonders interessant, da man im Tal hochintensiven Anbau mit vielen Pestiziden hat und auf den Bergen empfindliche alpine Ökosysteme, die teilweise auch streng geschützt sind“, erläutert Brühl. Gemeinsam mit seinem Team sowie Fachkollegen der BOKU und aus Südtirol hat er die Pestizid-Belastung auf Landschaftsebene untersucht – entlang des ganzen Tals bis in Höhenlagen. Den Verbleib von Pestiziden auf so großer Skala systematisch aufzunehmen und darzustellen ist ein Novum in den Umweltwissenschaften. Für ihre Studie haben die Forscher insgesamt elf sogenannte Höhentransekte entlang der gesamten Talachse untersucht, Strecken, die sich vom Talboden von 500 Metern Seehöhe bis auf die Berggipfel mit 2.300 Metern erstrecken. Entlang dieser Höhentransekte entnahm das Team auf Höhenstufen alle 300 Meter Untersuchungsmaterial. An insgesamt 53 Standorten wurden so Pflanzenmaterial gesammelt und Bodenproben gezogen.

Mittel auch in Nationalparks gefunden

Die Ergebnisse: Insgesamt nehmen die Pestizide in den Höhen und mit Abstand zu den Apfelplantagen zwar ab, aber selbst im oberen Vinschgau mit kaum Apfelanbau haben die Forscher noch mehrere Substanzen in Mischungen im Boden und in der Vegetation nachgewiesen. „Wir fanden die Mittel in entlegenen Bergtälern, auf den Gipfeln und in Nationalparks. Dort haben sie nichts verloren“, unterstreicht Brühl. Die Stoffe verbreiten sich aufgrund der teilweise starken Talwinde und der Thermik im Vinschgau offenbar weiter als man aufgrund ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften annehmen könnte. Das Beunruhigende: Die Wissenschaftler geben zu bedenken, dass bereits in den gemessenen niedrigen Konzentrationen Pestizide zu sogenannten sublethalen, also nicht direkt tödlichen Effekten bei Organismen führen können, die nicht Ziel der Bekämpfung sind. Dies könnte z.B. für Schmetterlinge eine Verringerung der Eiablage bedeuten mit den entsprechenden negativen Folgen für die Population. Nur an einer einzigen Stelle haben die Forscher in den Pflanzen keine Wirkstoffe gefunden – interessanterweise gibt es an jener Stelle auch sehr viele Schmetterlinge.

Sogar Insektizid Methoxyfenozid gefunden

Insgesamt 27 verschiedene Pestizide fanden die Forscher in der Umwelt. Sie betonen jedoch zugleich, dass sie ihre Messungen Anfang Mai durchgeführt haben und dass im Verlauf der Wachstumssaison bis zur Ernte weitere Mittel zum Einsatz kommen. Durchschnittlich fast 40 Anwendungen von Pestiziden während der Saison seien üblich. Damit seien komplexere Mischungen mit mehreren Substanzen und immer wieder auftretende höhere Konzentrationen wahrscheinlich. In fast der Hälfte aller Boden- und Pflanzenproben konnten die Forscher das Insektizid Methoxyfenozid messen. Das Mittel ist in Deutschland seit 2016 aufgrund der Umweltschädlichkeit nicht mehr zugelassen. Allerdings ist bisher auch kaum bekannt, wie sich chronische Belastungen durch Pestizide mit Mischungen in niedrigen Konzentrationen auf die Umwelt auswirken. Ein schwarzer Fleck ist zudem auch das mögliche Zusammenwirken verschiedener Substanzen. Bei der Umweltrisikobewertung im Rahmen des europäischen Zulassungsverfahrens werden Mischungen nicht bewertet, sondern die Stoffe werden einzeln betrachtet. „Mit der Realität der Anwendungen auf dem Acker oder in der Obstplantage und dem Verbleib in der Umwelt hat dies nichts zu tun“, so Brühl.

Verbreitung beunruhigt die Forscher

Wie weit verbreitet die Pestizidbelastung im Boden und in den Pflanzen war und dass selbst Nationalparks betroffen sind, die eigentlich zum Schutz gefährdeter Pflanzen und Tiere eingerichtet wurden, beunruhigt die Forscher. „Die Konzentrationen, die wir fanden, waren zwar nicht hoch, aber es ist erwiesen, dass Pestizide das Bodenleben schon bei sehr geringen Konzentrationen beeinträchtigen“, erklärt Bodenexperte Zaller von der BOKU. Außerdem fand das Team immer einen Cocktail aus verschiedenen Pestiziden, deren Wirkungen sich möglicherweise verstärken können. „Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Technik der Pestizidausbringung im Apfelanbau stark verbesserungswürdig ist, sonst würden nicht so viele Pestizide abseits der Apfelanlagen gefunden werden“, ist Zaller überzeugt. Außerdem sei es unwirtschaftlich, wenn die Pestizide nicht gezielt auf die Zielorganismen aufgebracht werden.

Neue Dimension des Problems beklagt

„Wir wissen aus früheren Studien (Caroline Linhart, et al 2021, Environmental Sciences Europe), dass Kinderspielplätze in der Nähe der Apfelanlagen mit Pestiziden belastet sind. Zum Teil sogar übers ganze Jahr hindurch“, so Mit-Autor und Pestizid-Kritiker Koen Hertoge, der im Vinschgau lebt. „Die aktuellen Ergebnisse zeigen eine neue Dimension des Problems, weil auch weit entlegene Gebiete mit Pestiziden belastet sind. Maßnahmen zum Schutz der Natur und der Gesundheit der Bevölkerung sind unbedingt notwendig und hier ist nun die neue Landesregierung gefordert.“

Funktionale Biodiversität fördern

Die Autoren schlussfolgern, dass eine Reduktion oder gar ein Verbot des Pestizideinsatzes, zumindest der in entlegenen Gebieten nachgewiesenen Stoffe, mögliche Gegenmaßnahmen sein könnten. Im Gegenzug sei es wichtig, Bewirtschaftungspraktiken zu forcieren, die auch die Nützlings-Schädlingsinteraktionen, die sogenannte funktionale Biodiversität in der Apfelanlage und in der näheren Umgebung fördern. Gemeint sind damit beispielsweise naturnahe und blütenreiche Grasländer verteilt in der Landschaft, um den Gegenspielern von Apfelschädlingen einen Lebensraum zu bieten. Darüber hinaus müsste ein systematisches Monitoring eingeführt werden, das Messungen an verschiedenen Stellen übers Jahr vorsieht, um den ganzjährigen Pestizideintrag abschätzen zu können.

„…es drängt, jetzt zu handeln“

Aus der beobachteten Verbreitung in der gesamten Landschaft schließt Brühl: „Wir brauchen Regionen, in denen Pflanzen und Tiere nicht mit diesen bioaktiven Substanzen kontaminiert sind. Eine Pestizidreduktion – auch mit großen Gebieten ohne den Einsatz von synthetischen Pestiziden – und gleichzeitige Ausweitung des biologischen Anbaus ist zur Reduktion der Landschaftsbelastung dringend notwendig. Unsere Ergebnisse zeigen, dass es drängt, jetzt zu handeln, wir haben leider keine Zeit mehr.“

Literatur:
Brühl CA, Engelhard N, Bakanov N, Wolfram J, Hertoge K, Zaller JG: Widespread contamination of soils and vegetation with Current Use Pesticide residues along altitudinal gradients in a European Alpine valley. Nature Communications Earth & Environment, 2024, DOI: doi.org/10.1038/s43247-024-01220-1.

Brühl CA, Bakanov N, Köthe S, et al.: Direct pesticide exposure of insects in nature conservation areas in Germany. Scientific Reports, 2021, DOI: doi.org/10.1038/s41598-021-03366-w.

Zaller JG, Kruse-Paß M, Schlechtriemen U, et al.: Pesticides in ambient air, influenced by surrounding land use and weather, pose a potential threat to biodiversity and humans. Science of The Total Environment, 2022, DOI: doi.org/10.1016/j.scitotenv.2022.156012.

Linhart C, Panzacchi S, Belpoggi F, et al.: Year-round pesticide contamination of public sites near intensively managed agricultural areas in South Tyrol. Environmental Sciences Europe, 2021, DOI: doi.org/10.1186/s12302-020-00446-y.

Quelle: idw/Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau

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