Pestausbruch 1720: Verschwörungstheorien gab es schon damals

Geschichte wiederholt sich
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Pest in Marseille 1720
Pest in Marseille 1720 Michel Serre, Gemeinfrei, wikimedia
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Ein wenig bekannter historischer Fall zeigt laut Historiker „verblüffende Parallelen zu heute“. Es wurde das Aufkommen von Verschwörungstheorien in England zum Pestausbruch 1720 in Marseille rekonstruiert.

Verschwörungstheoretiker, die nicht an die Pandemie glauben: Offenbar kein modernes Phänomen. Historikern zufolge gab es das vor genau 300 Jahren schon einmal. „Als 1720 in Marseille die Pest ausbrach, ergriff England umfassende Quarantänemaßnahmen und provozierte damit hitzige Debatten mit verschwörungstheoretischen Zügen. Der noch wenig bekannte historische Fall zeigt verblüffende Parallelen zum heutigen Deutschland“, schreibt der Historiker PD Dr. André Krischer vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU. „Wo heute auf ‚Corona-Demos‘ gegen eine ‚Neue Weltordnung‘ unter Führung von Bill Gates gewettert wird, kursierten damals Gerüchte über dunkle Machenschaften der Regierung. Es hieß, sie werde Freiheiten beschneiden, Militär im Land einsetzen und Familien voneinander trennen.“ Kritiker hielten jede Prävention für unnötig. „Manch einer meinte gar, die Seuche könne den Briten überhaupt nichts anhaben.“ Dass Seuchenprävention Verschwörungstheoretiker auf den Plan ruft, wiederholt sich laut Krischer in der Geschichte: „Paranoide Angst vor dem Errichten einer Diktatur, Sorge vor wirtschaftlichem Einbruch und ein Naturwissenschaftler im Zentrum der Kritik – die englische Debatte aus dem 18. Jahrhundert ähnelt auch in dieser Hinsicht unserer Gegenwart“.

Lange Tradition von Verschwörungstheorien als Elitenkritik

Krischer arbeitet den historischen Fall und strukturelle Ähnlichkeiten zur Gegenwart in einem Beitrag „Willkürherrschaft und Strafe Gottes“ im „Epidemien“-Dossier auf der Website des Exzellenzclusters auf. Er schildert sie anhand vielfältiger Quellen und Begebenheiten, etwa einer Flugschrift des Bischofs von London, Edmund Gibson (1669-1748), der grassierende „Lügen und Falschnachrichten“ unter seinen Zeitgenossen verurteilte. In einem weiteren Beitrag schreibt Krischer gemeinsam mit den Fachkollegen Prof. Dr. Wolfram Drews und Dr. Marcel Bubert über die lange Tradition von „Verschwörungstheorien als Elitenkritik“.

Die Pest sei eine Strafe Gottes

Dass sich die Gemüter im 18. Jahrhundert gerade in England erhitzten, ist kein Zufall, wie der Historiker ausführt. „London hatte schon 1720 eine sehr selbstbewusste Öffentlichkeit mit Kaffeehäusern und einer einzigartig vielfältigen Presse- und Medienlandschaft, die von keiner Zensur mehr reglementiert wurde.“ Zudem hätten Verschwörungstheorien in England, das zudem damals unter dem Platzen der größten Spekulationsblase der Frühmoderne litt, eine lange Tradition: „Man dachte ständig in verschwörungstheoretischen Kategorien: Entweder fürchtete man sich vor der Unterwanderung durch ‚Papisten‘, also Katholiken, oder man unterstellte den jeweils Herrschenden, ein Arbitrary Government, eine Willkürherrschaft, errichten zu wollen.“ Auch auf religiöser Seite bestritt man die Maßnahmen der Regierung, so Krischer. Die Pest sei eine Strafe Gottes, besonders für London, diesen Sündenpfuhl der Ungläubigen, hieß es von den Kanzeln. Gegen die Seuche helfe nur Fasten, Beten, Buße und die gefasste Vorbereitung auf den Tod.

Richard Mead – „der Drosten“ des 18. Jahrhunderts

Zur Zielscheibe der Debatte wurde 1720 – ähnlich wie heute der Virologe Christian Drosten – ein Arzt, Richard Mead (1673-1754), so Krischer. Diesem misstrauten viele Zeitgenossen aufgrund seiner strikten Empfehlungen zum Eindämmen der Pest, auch wegen seiner Nähe zur Politik und, anders als im heutigen Fall, seiner Religion, denn Mead war Quäker und nicht Anglikaner. „1720 wurde über den Sinn von Quarantäne gestritten, weil es noch viele Mediziner gab, die die Pest nicht für ansteckend hielten. 2020 schloss man Schulen und Kitas, während noch darüber gestritten wurde, ob Kinder überhaupt relevante Überträger des Corona-Virus seien.“ Offenbar lasse sich umso leichter ein „Skandal“ aus etwas machen, „wenn wissenschaftlich unsichere Expertisen politische Relevanz erlangen und zugleich mit Personen identifiziert werden können, mit dem Virologen Christian Drosten 2020 und dem Epidemiologen Richard Mead 1720/21“, so der Historiker. Allerdings sei der „Resonanzraum“ für „Lügen und Falschnachrichten“ sowie Verschwörungstheorien in der Bevölkerung in beiden Fällen rasch wieder kleiner geworden. „Epidemien sind Stresstests für Gesellschaften und können bestimmte diskursive Muster verstärken.“

Religion und Verschwörungstheorien in Zeiten der Pandemie

Die Arbeiten von André Krischer gehen aus einer Arbeitsgruppe des Exzellenzclusters zu „Religion und Verschwörungstheorien in Zeiten der Corona-Epidemie“ hervor. Das gleichnamige Web-Dossier versammelt vielfältige aktuelle geistes- und sozialwissenschaftliche Beiträge über religiöse Deutungen von Epidemien, den individuellen Umgang mit der Corona-Krise sowie Verschwörungstheorien in Konkurrenz zu Religion und Wissenschaft. So erörtert der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack vom Exzellenzcluster in seinem Beitrag „Der Einbruch der Realität in den Diskurs“ strukturelle Analogien zwischen Verschwörungstheorien, Wissenschaft und anderen Weltdeutungsangeboten und nimmt dabei besonders konstruktivistische Ansätze in den Blick. Die Politikwissenschaftlerin Carolin Hillenbrand untersucht im Rahmen einer internationalen Umfrage den Einfluss der Corona-Krise auf soziale, politische und religiöse Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen. Der Historiker und Theologe Johannes Wischmeyer, Oberkirchenrat beim Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), beleuchtet den Umgang der evangelischen Kirchen mit der Pandemie seit März 2020. Der Literaturwissenschaftler PD Dr. Christian Sieg befasst sich mit „Verschwörungstheorien als Erzählungen“.


Hier geht es zum Web-Dosier.


Quelle: idw/Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

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