Verluste der medizinischen Wissenschaft unter dem Nationalsozialismus (Teil 2)

Historisches
Heinz Fiedler
Verluste der medizinischen Wissenschaft unter dem Nationalsozialismus (Teil 2)
Otto Fritz Meyerhof © Nobel Foundation, Public Domain, wikimedia
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Otto Fritz Meyerhof (1884–1951) wurde nach Studien in Philosophie und Psychiatrie von Otto Warburg für die Biochemie der Muskeltätigkeit begeistert. Über die Universität Kiel ging er an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie und das KWI für medizinische Forschung in Heidelberg.

Schon 1922 erhielt er (gemeinsam mit A. V. Hill) den Nobelpreis für die Aufdeckung des Zusammenhanges zwischen Sauerstoffverbrauch und Milchsäurestoffwechsel. 1929 klärte er mit Gustav Embden (1874–1933) und Jakub Parnas (1884–1949) den Mechanismus der Glykolyse (Embden-Meyerhof-Parnas-Weg). Meyerhof durfte zunächst die Leitung der nichtstaatlichen Institution behalten, aber 1935 wurde die Lehrbefugnis entzogen und Studenten demonstrierten immer provokativer gegen ihn.

1938 flüchtete er über die Schweiz nach Paris und 1940 vor den deutschen Truppen über Spanien und Portugal in die USA. Dort bezahlte ihm die Rockefeller Foundation eine Forschungsprofessur für physiologische Chemie an der University of Pennsylvania. G. Embden (zwölfmal für Nobelpreis vorgeschlagen) wurde 1933 von Studenten mit einem Schild „Ich bin ein Jude“ aus dem Institut getrieben. Er kam in ein Nervensanatorium und verstarb nach kurzer Zeit an „Depression“. Der in Lwow (Lemberg) arbeitende J. Parnas wurde 1941 über Ufa nach Moskau deportiert, wurde Direktor des Instituts für Medizinische Chemie und entdeckte Phosphofruktokinase-1 und Pyruvatkinase. 1949 wurde er im Staatsgefängnis Lubjanka ermordet.

Rudolf Schönheimer | © Anonymous, public domain, wikimedia

Ein anderer großer Biochemiker, Rudolf Schönheimer (1898–1941), musste 1933 Freiburg verlassen [5]. Im Krankenhaus Moabit hatte er über Steroide als Risiko für Atherosklerose gearbeitet und war dann zwei Jahre bei dem international bekannten Physiologischen Chemiker Karl Thomas in Leipzig. 1926 wurde er Direktor der Abteilung für Physiologische Chemie bei dem Pathologen Ludwig Aschoff in Freiburg. 1930/31 hatte er einen Studienaufenthalt an der Universität Chicago und wurde 1933 in Vertretung von Aschoff durch H. Clarke zu einem Vortrag an der Columbia Universität eingeladen. Auf Anraten Aschoffs kehrte er nicht nach Freiburg zurück. Aschoff versuchte, die freie Stelle mit Hans Popper (1903–1988) aus Wien zu besetzen, da dieser der „einzige Pathologe mit biochemischen Kenntnissen“ war. Wegen der Erfahrungen mit der Judenvertreibung in Freiburg sagte Popper jedoch ab. Allerdings musste er 1938 selbst aus Wien flüchten, ging über Rotterdam an die University of Illinois und begründete mit Sheila Sherlock die Biochemie der Hepatologie.

Die bereits in Freiburg von Schönheimer formulierte völlig neue Hypothese von einem dynamischen Wechsel und Turnover der Körperbestandteile konnte jetzt mit Isotopen bestätigt werden. Es war ein glückliches Zusammentreffen, dass H. C. Urey (Nobelpreis 1934) genügende Mengen schweres Wasser für die Markierung von organischen Molekülen zur Verfügung stellen konnte. Für die aufwendigen Messungen wurde der Massenspektrograf von F. W. Aston verwendet. Ab 1937 konnte Schönheimer mit 15N durch Turnover-Untersuchungen von Aminosäuren den Harnstoffzyklus von Krebs bestätigen.

Die Synthese von Kreatin/Kreatinin aus kleinen Molekülen erforschte er zusammen mit dem deutschen Emigranten Konrad Bloch (1912–2000), der 1934 in die Schweiz und später in die USA geflohen war und 1964 den Nobelpreis für die Aufklärung der Cholesterinbiosynthese erhielt. Schönheimer baute eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe auf. Er war eine offene Persönlichkeit mit Humor und Enthusiasmus, aber gleichzeitig litt er unter Depressionen. Persönliche Schwierigkeiten und kompetitive Rückschläge in seinem Team sollen 1941 zum Freitod geführt haben. Dadurch wurde die verdiente Auszeichnung mit dem Nobelpreis verhindert, da posthume Auszeichnungen nicht möglich sind. Seine mit ihm emigrierte jüdische Frau Salome Gluecksohn-Waelsch (1907–2007) war die Begründerin der Entwicklungsgenetik von Säugetieren an der Columbia-Universität und wurde dafür 2007 an der Universität Freiburg mit der goldenen Promotion geehrt.

In Freiburg wurde auch der anerkannte Internist und Biochemiker Siegfried Thannhauser (1885–1962) als Direktor der Medizinischen Klinik abgelöst [5]. „Er könne als Hilfsassistent an die Uniklinik Heidelberg gehen!“ Zunächst versuchte er, eine eigene Praxis aufzubauen, aber 1935 wurde die Lage so bedrohlich, dass seine Frau („er kann keine Glühbirne wechseln!“) den Umzug nach Boston forderte und arrangierte. Seine wissenschaftlichen Ergebnisse über Purine, Harnsäure, Phospholipide und Lipoproteine hatte er bereits 1929 mit internationalem Erfolg im „Lehrbuch des Stoffwechsels und der Stoffwechselkrankheiten“ zusammengefasst. In Boston konnte er die Arbeiten fortsetzen.

Die damaligen biochemischen Techniken, verglichen mit den heutigen Methoden, steckten aber noch in den Kinderschuhen. Immerhin hatte er bereits 1950 bei zwei hyperlipidämischen Patienten mit 131I-markierten Triglyzeriden eine Störung der Chylomikronen-Clearance bewiesen. 1941 beschrieb er eine autosomal dominant vererbte Myopathie (Hauptmann-Thannhauser-Muskeldystrophie). Thannhauser kehrte nie nach Deutschland zurück („ich würde daran sterben“). 1997 wurde endlich in Freiburg eine nach Paul Uhlenhuth benannte Straße in Thannhauserstraße umbenannt. Uhlenhuth unterzeichnete 1933 eine Verfügung zur Entlassung der jüdischen Kollegen und beantragte 1944 Immunisierungsversuche an farbigen Kriegsgefangenen.

Sieben der frühen Penicillinforscher (hinten, von links): S. Waksman, H. Florey, J. Trefouel, E. Chain, A. Gratia; (vorne von links): P. Fredericq und Maurice Welsch, 1940er | © Wellcome Collection. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)

Ein gravierender Verlust war die Vertreibung von Ernst Boris Chain (1906–1979, Sir ab 1969) vom Pathologischen Institut der Charité nach England, zunächst zu G. Hopkins, der ihn 1935 an Howard W. Florey in Oxford vermittelte [7]. Bei Literaturstudien stieß Chain auf die 1929er-Arbeiten von Alexander Fleming über das noch nicht isolierte Penicillin, ohne zunächst an therapeutische Möglichkeiten zu denken. Nach vielen Versuchen isolierte und charakterisierte er diese äußerst instabile Substanz und entdeckte die Penicillinase als Ursache der Instabilität. Florey und Chain konnten am 25. Mai 1940 nachweisen, dass Albinomäuse eine Infektion mit Streptokokken nach Gabe von Penicillin überleben. Durch die sofort begonnene kriegswichtige Zusammenarbeit mit zahlreichen britischen und amerikanischen Wissenschaftlern konnten 1944 bei der Invasion der Alliierten Penicillin eingesetzt und Tausende Leben gerettet werden. Bereits 1945 erhielten die drei Forscher den Nobelpreis für Medizin. 1945 klärte Dorothy Hodgkin-Crowfoot die Struktur des Penicillins mittels Röntgenanalyse auf und John Sheehan synthetisierte 1957 das Antibiotikum.

Erwin Chargaff (1905–2002) studierte Chemie bei Fritz Feigl in Wien. 1933 musste er seine Stellung am Hygiene‧institut der Universität Berlin verlassen, ging an das Institut Louis Pasteur in Paris und 1935 an die Columbia Universität in New York, wo er ab 1952 als Professor für Biochemie lehrte. In den 1940er-Jahren erforschte er in der DNA die Basenpaarungen A = T, C = G und A + G = T + C und legte damit die Basis für die Aufklärung der Doppelhelixstruktur der DNA. Bei der Nobelpreisverleihung 1962 an Crick, Watson und Wiley für die Strukturaufklärung der Doppelhelix blieb Chargaff unberücksichtigt. Nach seiner Emeritierung 1974 setzte er sich kritisch und lesenswert mit gesellschaftlichen, politischen und kulturell-wissenschaftlichen Problemen auseinander.

Bernhard Zondek (1891–1966) und Selmar Aschheim (1878–1965) entwickelten 1928 die Aschheim-Zondek-Reaktion als ersten brauchbaren Schwangerschaftstest, indem Urin der Probandin infantilen Mäusen gespritzt und nach 48 Stunden der Eisprung als positiv gewertet wurde (schneller, aber unspezifischer war ein Froschtest). Aschheim wurde 1936 die Lehrbefugnis entzogen, er arbeitete bis 1957 am Centre National de la Recherche Scientifigue in Paris. Bernhard Zondek und seine beiden Brüder Hermann (1887–1979) und Samuel (1894–1970) gingen über Zwischenstationen an die Hadassah Medical School der Hebrew Universität in Jerusalem und bauten ein international anerkanntes endokrinologisches Zentrum auf.

Emigration aus Österreich

Nach dem deutschen Einmarsch in Österreich mussten jüdische Wissenschaftler und Mediziner umgehend ihre Posten räumen. Nur wenige Beispiele seien hier genannt:

Die Familie von Eugene Braunwald (geb. 1929 in Wien) musste unter dramatischen Umständen über Frankreich nach England flüchten und 1939 völlig mittellos weiter nach Brooklyn, USA [8]. Nach dem Studium arbeitete Eugene am National Institute of Health, an der University of California San Diego und an der Harvard University in Boston. Braunwald ist ein überragender Kardiologe und Physiologe, der Wesentliches zum myokardialen Sauerstoffverbrauch, zur kardiovaskulären Hämodynamik, zum Postinfarkt-Remodeling und zur Pathogenese der Herzinsuffizienz beigetragen hat (zum Beispiel Klassifikation der instabilen Angina nach Braunwald). Er leitete mehr als 50 TIMI-(thrombolysis in myocardial infarction)-Studien und verfasste „Braunwald’s Heart Disease“ in neunter Auflage sowie etwa 1.000 weitere Publikationen.

Samuel Mitja Rapoport (geb. 1912 in der Ukraine, gest. 2004 in Berlin) trat 1933 in das Institut für Medizinische Medizin in Wien ein. Der Direktor des Instituts Otto von Fürth (1867–1938) wurde sofort nach der Annexion Österreichs entlassen und starb kurze Zeit später. Vorausschauend hatte er Rapoport 1937 ein Stipendium am Cincinnati Children’s Hospital vermittelt. Dort lernte er 1944 die deutsche Emigrantin Ingeborg Syllm kennen und heiratete sie später. Rapoport forschte über den Elektrolyt- und Wasserhaushalt und den Stoffwechsel der Erythrozyten. Während des Krieges verbesserte er die Blutkonservierung durch das ACD-Medium und optimierte pH-Milieu, Lagerungstechnik und Transportverträglichkeit. Er erhielt dafür von Präsident Truman das „Certificate of Merit“, den höchsten an Zivilisten vergebenen Orden der USA.

Bei einem Europabesuch 1950 gerieten die Rapoports als Mitglieder der Kommunistischen Partei Österreichs ins Visier des Untersuchungsausschusses von McCarthy. In einer überstürzten Reaktion holte Ingeborg Rapoport die Kinder aus den USA nach Zürich. Die Universität Wien (wie andere europäische Staaten) lehnte aufgrund von Interventionen der CIA die Bewerbung auf eine Professur ab. 1952 wurde Rapoport an die Humboldt-Universität in Berlin berufen, baute das Institut für Physiologische und Biologische Medizin auf und wurde ein führender Biochemiker der DDR. Seine Frau gründete das international bekannte Institut für Neonatologie an der Charité [9].

Fritz Feigl (1891–1971) arbeitete von 1919 bis 1938 am II. Chemischen Institut in Wien. Bereits 1937 hatte er den Nachweis von Protein im Urin mittels des Eiweißfehlers und von Blut beschrieben. Er flüchtete zunächst in die Schweiz, dann nach Belgien, wurde 1940 gefasst und in das französische KZ Perpignan gebracht. Mithilfe seiner Frau gelang ihm die Flucht über Spanien und Portugal nach Rio de Janeiro (Brasilien), wo er das Bergbaulaboratorium zu internationaler Anerkennung brachte. In 300 Publikationen hat er (teilweise zusammen mit Rosa Stern, emigriert nach Neuseeland, Suizid 1962) die Tüpfelanalytik beschrieben [9]. Diese Technik wurde später zur Papier- und Dünnschichtchromatografie ausgebaut und war der Vorläufer der Streifentests, die heute als Point-of-Care-Tests in der Diagnostik unentbehrlich sind.

Exil in der Türkei

Kemal Atatürk hat in den1930er-Jahren nicht nur den Staat, sondern auch die Bildungs- und Universitätseinrichtungen reformiert. Im Juli 1933 wurden durch P. Schwartz erste Verträge mit gefährdeten deutschen Wissenschaftlern abgeschlossen: Sie mussten Türkisch lernen und Lehrbücher auf Türkisch publizieren. Bis 1945 hatten etwa 1.000 Emigranten aus dem deutschsprachigen Raum in der Türkei Zuflucht gefunden [11, 12]. Türkische Diplomaten verhalfen auch in anderen Ländern verfolgten Juden zur Flucht in die Türkei. Allerdings wurden nur wenige Immigranten in der Türkei heimisch, 30 Prozent siedelten in die USA über. Nur wenige jüdische Mediziner seien hier exemplarisch erwähnt:

Hans Winterstein (1879 in Prag–1963 in München) war Physiologe in Rostock, Breslau und von 1934 bis 1953 in Istanbul. Seine Vorlesungen hielt er bald in türkischer Sprache, ebenso schrieb er seine Lehrbücher. Drei Jahre nach seiner Emeritierung an der Universität Istanbul kehrte er mit 77 Jahren zurück und übernahm eine Gastprofessur in München.

Felix Michael Haurowitz (1896 in Prag–1987 in Bloomington, Indiana) war Professor für Physiologische Chemie in Prag, ab 1939 Leiter des Biochemischen Instituts in Istanbul und seit 1948 an der Indiana Universität [13]. Er wurde durch seine Arbeiten über Proteine und die Antikörperbildung im Immunsystem bekannt.

Erich Frank (1884 in Berlin–1957 in Istanbul) war Internist und Diabetologe. Er erforschte und verwendete 1926 das erste Antidiabetikum Synthalin. Zum Aufbau eines Diabeteszentrums holte er seine Diätschwester Elisabeth Wolff nach Istanbul [12]. Ab 1934 forschte er bis zu seinem Tod an der Universität Istanbul über endokrinologische und hämatologische Themen. Die Türkei ehrte ihn mit einem Staatsbegräbnis, an dem mehr als eine Million Menschen teilgenommen haben sollen. Seinen Assistenten Kurt Steinitz (1907–1966) holte er mit dessen Schwestern Elisabeth und Erika Bruck ebenfalls nach Istanbul. Steinitz arbeitete über Laborteste (Chemical Laboratory Procedures, 1942). Nach Auslaufen seines Vertrages ging er nach Haifa, baute dort die erste künstliche Niere und ein Schilddrüsenzentrum auf. Seine Schwester Erika Bruck ging 1939 in die USA und leitete das US Committee for Laboratory Standards.

Alfred Marchionini, deutscher Dermatologe, emigrierte 1938 an das Nümune Hastanesi in Ankara, kehrte nach dem Krieg zurück und trat die Nachfolge von Leo von Zumbusch in München an.

Rudolf Nissen (1896–1981) begann seine chirurgische Ausbildung 1921 bei Sauerbruch in München und ging mit ihm später nach Berlin. 1933 emigrierte er in die Türkei und wurde Ordinarius in Istanbul (Ehrendoktorwürde der Hacettepe-Universität Ankara). Ab 1939 war er Direktor an verschiedenen Chirurgischen Kliniken in den USA. Die Fundoplikatio nach Nissen wurde zur Standardoperation. Von 1952 bis 1970 arbeitete er in Basel an der Universität und in eigener Praxis [14].

Albert Eckstein (1891–1950) wurde 1926 Leiter des Kinderkrankenhauses in Düsseldorf. Nach seiner unwürdigen Entlassung 1935 erhielt er über die Emergency Organization for German Scientists Abroad eine Einladung an das Numune Hospital in Ankara [15]. Eine wichtige Aufgabe war die umfassende Erhebung über die epidemiologische Situation der Kinder und Mütter in Anatolien. Eine seiner vielen Fotografien wurde auf einer türkischen Lira-Banknote gedruckt (erstmals das Bild einer Frau!). Viele führende Pädiater der Türkei wurden durch Eckstein ausgebildet, sein Lehrbuch wurde als Standard durch das Ministerium verteilt. Die Borrelieninfektion Noma wurde durch seine Bemühungen ausgerottet. Durch Präventivmedizin und Milchversorgung konnte er die mit 50 Prozent hohe Kindersterblichkeit wesentlich reduzieren.

Eckstein hatte auch Kinder von Botschaftsangehörigen zu behandeln. Der deutsche Handelsattaché (ein fanatischer Nazi) bedankte sich nach der Behandlung seines Kindes, indem er anbot, sich für Ecksteins Verwandte in Deutschland einzusetzen. „Sie sind alle tot.“ Betroffen bot der Attaché nun Geld an. „Ihr Geld ist zu schmutzig für mich“, war die Antwort. Zur Abreise der Familie aus der Türkei kamen Hunderte mit Babys und Kindern auf den Bahnhof. Die Inhumanität der deutschen Machthaber hat damals zur Entwicklung der Humanität in der Türkei beigetragen.

Kindertransporte

Auch die „Kindertransporte“ (Ausreise jüdischer Kinder ohne Eltern) kurz vor Ausbruch des Krieges haben letztendlich die Entwicklung in den Aufnahmeländern gefördert. Robert Mahler (1924–2006) war ein Großneffe des Komponisten [16]. Er wurde als 15-Jähriger von Wien nach Schottland gebracht und in einer Architektenfamilie aufgenommen. Als exzellenter Biochemiker und Kliniker (Stoffwechselerkrankungen, Diabetes, McArdle-Syndrom) erwarb er sich großes Ansehen. Als er an Parkinson erkrankte, stellte er fest, dass die Triple-Therapie gegen Helicobacter ihn vom Rollstuhl erlöste.

Leslie Brent (geb. 1925 in Köslin als Lothar Baruch, gest. 2019) wurde von seinen Eltern, die nicht überlebten, unter neuem Namen zunächst in einem Waisenhaus versteckt. Als 13-Jähriger kam er nach England, studierte Zoologie und arbeitete 1951 mit Nobelpreisträger Peter Medawar über immunologische Toleranz und über Grundlagen der Transplantationsoptimierung, war zwei Jahre Präsident der Transplantation Society und 1969 bis 1990 Professor für Immunologie an der St. Mary’s Hospital Medical School in London.

Der Artikel ist beschränkt auf die wissenschaftliche Karriere von aus Deutschland und Österreich vertriebenen jüdischen Wissenschaftlern der Medizin und Humanbiologie [17]. Noch tiefgreifender waren die Verluste von Physikern und Chemikern für Deutschland. Neben der dargestellten Zerstörung von wissenschaftlichen Entwicklungen waren weitaus einschneidender die Verluste von Angehörigen und das Zerbrechen von Ehen und Freundschaften.

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Dr. Heinz Fiedler
Pachelbelstraße 18 a, 99096 Erfurt

Literatur

 1.    Medawar J, Pyke D: Hitler’s Gift. Scientists Who Fled Nazi Germany. London: Richard Cohen Books 2000.
 2.    https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Akademie_der_Naturforscher_Leopoldina.
 3.    Schwartz P, Peukert H: Notgemeinschaft zur Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933 in die Türkei. Marburg: Metropolis 1995.
 4.    Bolton TB, Brading AF: Edith Bülbring (27.12.1909–5.7.1990). Biographical Memoirs of the Fellows of the Royal Society 1992; 38: 67–95.
 5.    Der Verlag Falk Foundation Freiburg hat folgende Biografien veröffentlicht: Hans Adolf Krebs, Hans Popper, Rudolf Schönheimer, Siegfried Thannhauser, Ismar Boas.
 6.    Fiedler H: Biochemikerin und Nobelpreisträgerin Gerty Theresa Cori. Karriere im Schatten. MTA Dialog 2008; 9: 1048–9.
 7.    Weintraub B: Ernst Boris Chain (1906–1979) and penicillin. Bull Isr Chem Soc 2003; 13: 29–32.
 8.    Williams R: Eugene Braunwald. Escaping death and prolonging lives. Circ Res 2010; 106: 1667–9 and 1786–8.
 9.    Fiedler H: Ingeborg Rapoport – Anerkennung der Promotionsarbeit nach 77 Jahren. MTA Dialog 2015; 16: 58–9.
10.    Feigl F: Chemistry of Specific and Sensitive Reactions. New York: Academic Press 1949.
11.    https://de.wikipedia.org/wiki/Exil_in_der_Türkei_1933–1945.
12.    Erichsen R: Frauen im türkischen Exil und ihr Beitrag zur türkischen Universitätsreform. In: Alma Maters Töchter im Exil. Hansen Schaberg I, Häntzschel H (eds.). München: Richard Boorberg Verlag 2011.
13.    Putnam PW: Felix Haurowitz (1896–1987) Biographical Memoirs of National Academy of Sciences 1994; 64: 135–63.
14.    Nissen R: Helle Blätter – dunkle Blätter. Erinnerungen eines Chirurgen. Reprint. Landsberg: ecomed Biographien 2001.
15.    Akar N, Reisman A, Oral A: Albert Eckstein (1891–1950). Modernizer of Turkey’s pedriatrics in exile. J Med Biography 2007; 15: 213–8.
16.    Richmond C: Professor Robert Mahler. The Independent 19. August 2006.
17.    Unter gleichem Titel, aber verändertem Text erschien eine Publikation in: Thüringer Ärztebl 2012; 23: 165–8.

Entnommen aus MTA Dialog 2/2021

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