Verluste der medizinischen Wissenschaft unter dem Nationalsozialismus (Teil 1)
Von 1901 bis 1932 wurden 33 Nobelpreise an Deutschland und 18 an England vergeben, dagegen standen sich 1933 bis 1960 acht Deutsche und 21 Engländer gegenüber. In der ersten Periode wurden 25 Prozent der deutschen Nobelpreise von Juden erbracht, obwohl sie weniger als ein Prozent der Bevölkerung ausmachten. Nach 1933 wurden aus der Leopoldina (jetzt Nationale Akademie der Wissenschaften) 70 Mitglieder (Einstein war der erste) ausgeschlossen, 35 mit jüdischer Abstammung mussten Deutschland verlassen (nur H. Winterstein und der Botaniker E. Pringsheim kehrten zurück) und elf (zehn waren Juden) verloren ihr Leben. Im November 1938 beschloss der von 1932 bis 1950 amtierende Präsident Emil Abderhalden (1877–1950) alle restlichen jüdischen Mitglieder auszuschließen: Die Karteikarten wurden ohne Benachrichtigung der Betroffenen aussortiert und versteckt und am 9. Mai 1945 wieder einsortiert! Abderhalden konnte 1938 dem Gauleiter melden, dass die Leopoldina judenfrei sei [2].
Aus politischen und ethnischen Gründen wurden 614 Hochschullehrer entlassen. Nur der Pharmakologe und Nichtjude Otto Krayer (1899–1982) lehnte aus moralischen Gründen ab, den nach Entlassung von Philipp Ellinger freigewordenen Lehrstuhl für Pharmakologie an der Universität Düsseldorf zu übernehmen. Im Schreiben an das Preußische Ministerium für Wissenschaft heißt es: „. . . daß ich die Ausschaltung der jüdischen Wissenschaftler als ein Unrecht empfinde“. Krayer erhielt sofort Universitäts- und Bibliotheksverbot. Deshalb verließ er noch 1933 Deutschland und gelangte über London und Beirut 1939 an die Harvard Universität als Leiter des Department of Pharmacology. In seiner Berliner Zeit hatte er mit dem ebenfalls emigrierten Wilhelm Feldberg an Tieren nachgewiesen, dass Azetylcholin der Überträgerstoff des Parasympathikus ist. Der entlassene Philipp Ellinger (1887–1952) hat die Fluoreszenz-basierte Intravitalmikroskopie aufgebaut sowie Riboflavin und Nikotinamid nachgewiesen. Bei einer Forschungsreise nach Ägypten erkannte er, dass Pellagra bei überwiegender Maisnahrung durch einen Mangel an Nikotinsäure und Nikotinamid hervorgerufen wird.
Zahlreiche ältere anerkannte jüdische Mediziner, die nicht mehr die Kraft oder Möglichkeit zur Emigration hatten, wurden in Theresienstadt oder anderen Konzentrationslagern umgebracht, wie Abraham Buschke (Dermatologe, Venerologe), Karl Herxheimer (Jarisch-Herxheimer-Reaktion), Ludwig Pick (Niemann-Picksche Krankheit) und Arthur Simons (Neurologe). Andere schieden aus dem Leben, wie Ismar Boas (1936 nach Wien geflüchtet) am Tag der Führerparade in Wien oder Arthur Nicolaier (Entdecker des „Tetanus-Nicolaier’s-Bazillus“, jetzt Clostridium tetani) kurz vor der Deportation.
Schwere Verluste betrafen auch die Kaiser-Wilhelm-Institute und die Universitäten Berlin und Göttingen als Zentren für Theoretische Physik (Albert Einstein, Max Born, James Franck, Erwin Schrödinger) und für (Physikalische) Chemie (Lise Meitner, Fritz Haber) und Medizinische Forschung (Otto Meyerhof). Einige Forscher blieben auf ihren Posten (Max von Laue), sie wurden geduldet oder von Schülern mit Beziehungen zu oberen Kreisen gestützt (Otto Warburg).
Viele Juden wurden von den Vorgängen überrascht, weil politisch uninteressiert oder meinten: „Nichts wird so heiß gegessen wie gekocht.“ Oft hatten sie sich von den orthodoxen Regeln gelöst oder waren konvertiert, fühlten sich eng mit Deutschland verbunden und hatten im Ersten Weltkrieg mit Begeisterung und freiwillig Dienst getan (Fritz Haber, Franz Simon, Otto Warburg). Absoluter Pazifist war dagegen Einstein 1914 durch seinen Friedensappell, gemeinsam mit Georg Friedrich Nicolai, der nach Festungshaft 1918 nach Kopenhagen flüchtete und 1964 in Santiago verstarb.
Einige deutsche Nobelpreisträger, wie Johannes Stark und Phillip von Lenard, haben fanatisch die Rassengesetze propagiert und öffentlich die Relativitätstheorie des Juden Einstein als undeutsch diffamiert. Antisemitische Tendenzen und Neid auf die erfolgreichen Juden waren allerdings bereits vor 1933 vorhanden. Richard Willstätter (1915 Nobelpreis für die Strukturaufklärung des Chlorophylls) legte 1924 sein Amt an der Universität München nieder, da bei der Besetzung von drei vakanten Lehrstühlen jeweils die an erster Stelle stehenden jüdischen Bewerber abgelehnt wurden und faschistische Studenten vor seinem Haus demonstrierten. Nach der „Kristallnacht“ 1938 musste er unter dramatischen Umständen in die Schweiz fliehen, die er nach den dortigen Gesetzen nicht wieder verlassen durfte.
Am 7. April 1933 wurden aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ Nichtarier und politische Nazigegner ohne Rücksicht auf ihre Position aus dem Staatsdienst entlassen. Ausgenommen waren bis 1935 die Teilnehmer am Ersten Weltkrieg oder Personen, die dabei nahe Verwandte verloren hatten. Am 22. April 1933 wurde die Zulassung von nichtarischen Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen zum 1. Juli 1933 für 2.600 Ärzte, 460 Zahnärzte und 180 Dentisten beendet. 1938 wurde ihnen auch die Approbation entzogen, sodass sie nur noch Juden und die eigene Familie als „Heilbehandler“ behandeln durften. Die historische Aufarbeitung in der Gesellschaft für Pädiatrie von 1933 bis 1938 ergab, dass von 1.361 Kinderärzten mehr als 50 Prozent Juden waren, von denen 363 emigrierten und 63 im KZ und viele durch Suizid verstorben sind.
Im „Reichsbürgergesetz“ und „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ von 1935 wurde festgelegt, wer Volljude oder Mischling ersten oder zweiten Grades war. Über Ausnahmen entschied allein Hitler, so wurden die Söhne von Emil von Behring als „Ehrenarier“ eingestuft, obwohl „von Behring das deutsche Blut versaut hat“. Der Reichsärzteführer Gerhard Wagner konnte sich mit einigen Verschärfungen, wie Zwang zur Scheidung von Mischehen und Aberkennung von Promotionen, nicht durchsetzen. Eine zweite große Vertreibungswelle erfolgte sofort nach der Besetzung von Österreich. Die bekannte Wiener Schule erlitt einen beispiellosen Niedergang.
Hilfsorganisationen
Im März 1933 hörten die britischen Politiker Sir William Beveridge und Lionel Robbins bei einem Aufenthalt in Wien von den Entlassungen von Wissenschaftlern in Deutschland. Sie gründeten sofort die Foundation of the Academic Assistance Council. Bis 1945 wurden 2.541 Flüchtlinge dort registriert, von denen 20 später den Nobelpreis erhielten, 54 wurden Fellows of the Royal Society, 94 Fellows der British Academy und zehn wurden geadelt. Beveridge meinte: „No study that I have made in my life has ever seemed so worthwile.“ Die britische Regierung hielt sich bis 1939 aufgrund ihrer policy of appeasement (Beschwichtigungspolitik) weitgehend zurück. Nach Kriegsbeginn wurden viele Emigranten vorübergehend als „Enemies“ in England oder Kanada interniert [1].
Langwieriger war die Aufnahme in die USA: Strenge Einwanderungsbestimmungen, Wirtschaftskrise, Desinteresse an europäischen Ereignissen und ein damals verbreiteter Antisemitismus, den Präsident Franklin D. Roosevelt später als größten Fehler seiner Amtszeit betrachtete. Vor 1933 hatten amerikanische Universitäten weniger jüdische Mitarbeiter als die deutschen. Die englischen Kollegen übernahmen oft eine vermittelnde und anbahnende Rolle für die zunächst in England aufgenommenen Exilanten. Zunehmend wurden etwa 1.700 akademische Flüchtlinge von dem American Emergency Committee und von jüdischen Stiftungen und der Rockefeller Foundation unterstützt.
Der Pathologe Philipp Schwartz (geb. 1894 in Serbien, gest. 1977 in den USA) floh aus Frankfurt in die Schweiz und gründete im April 1933 in Zürich die „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft im Ausland“, die sich um Verträge mit der Türkei bemühte, wo Mustafa Kemal Atatürk das Hochschulwesen nach westlichem Vorbild reformieren wollte [3]. Bereits 1933/4 nahmen 42 Professoren, teilweise mit Krankenschwestern und Assistenten an der Universität Istanbul ihre Arbeit auf, von 240 altgedienten türkischen Hochschuldozenten wurden von Atatürk 157 entlassen! In Ankara war der politisch verfolgte Ernst Reuter (1889–1953, zweimal in KZ-Haft, späterer Oberbürgermeister von Westberlin) bis zum Kriegsende tätig. Schwartz bemühte sich 1957 um Wiedereinstellung in die Pathologie der Universität Frankfurt, er wurde aber wegen seiner 63 Jahre abgewiesen! „. . . meine Tätigkeit in einer Emigrantenorganisation wurde auch nach dem Zusammenbruch als deutschfeindlich angesehen . . .“
Im Allgemeinen sind Künstler, Physiker (Atombombe!) und Chemiker als Flüchtlinge besser bekannt als Biochemiker/Physiologen und Mediziner. Der Direktor des Institute of Fine Arts (New York) hieß die Flüchtlinge willkommen: „Hitler is my best friend. He shakes the tree and I collect the apples!“
Die weiteren Ausführungen beschränken sich auf medizinisch ausgerichtete Wissenschaftler und Ärzte (auf gendergerechte Bezeichnungen wird zur besseren Lesbarkeit verzichtet).
Medizinische Wissenschaftler und Ärzte
Hervorgehoben seien die Verluste in der Neurophysiologie. Aus der Berliner Schule von W. Trendelenburg emigrierten Wilhelm Feldberg (1900–1993) und Marthe Louise Vogt (1903–2003, Tochter der Hirnforscher Oskar und Cécile Vogt) und arbeiteten bei Sir Henry Dale (1875–1968) über Azetylcholin als Neurotransmitter der Motoneurone. Dale erhielt 1936 den Nobelpreis für die Entdeckung des Adrenalins als Überträgerstoff des Sympathikus. Der mit ihm ausgezeichnete Otto Loewi (1873–1961) erkannte Azetylcholin als Überträgerstoff des Parasympathikus. Loewi forschte über den Kohlenhydrat- und Eiweißstoffwechsel und wandte sich später der Pharmakologie in Marburg, Wien und Graz zu. 1938 wurden er und seine Familie bis zur absoluten Armut enteignet. Er konnte über Brüssel nach England ausreisen und erhielt über die Rockefeller-Stiftung eine Professur am College of Medicine in New York.
Ebenfalls aus der Berliner Schule kam die deutsch-niederländische Edith Bülbring (1903 Bonn–1990 Oxford) die nach dem Tod Trendelenburgs zunächst an die Kinderklinik Jena und 1932 zu Ulrich Friedemann an das Rudolf-Virchow-Krankenhaus ging. Als „jüdischer Mischling ersten Grades“ wurde sie sofort und unter rigorosen Bedingungen entlassen. Dale verschaffte ihr eine Stelle bei J. H. Burn im pharmakologischen Labor, wo sie zunächst die Standardisierung von Hormon- und Vitaminpräparaten im Tierversuch bearbeitete. Später arbeitete sie mit 40 Wissenschaftlern (26 waren oder wurden Lehrstuhlinhaber oder Abteilungsleiter) über die Einwirkung des vegetativen Nervensystems auf die glatte Muskulatur: „Edith’s contributions to smooth muscle physiology and pharmacology were immense.“ (Tadao Takeda).
Emmy Klieneberger-Nobel (1892–1985) war eine deutsch-britische Mikrobiologin, die aus einer „freireligiösen“ jüdischen Familie stammte und zunächst Botanik, Zoologie, Mathematik und Physik in Göttingen studierte. 1922 erhielt sie in Frankfurt eine Stelle als Bakteriologin bei Max Neisser und wurde als erste Frau an der Universität Frankfurt habilitiert. 1933 wurde ihr die Lehrbefugnis entzogen, wenige Tage später erhielt sie eine Stelle am Lister Institute of Preventive Medicine in London. Ihr Bruder Carl Klieneberger, Chefarzt in Zittau, nahm sich 1938 kurz vor Aberkennung seiner Approbation das Leben, ebenso wie Mutter und Schwester. Ihrem Bruder Otto, Oberarzt an der Nervenklinik Königsberg, half sie bei der Ausreise über England nach Südamerika. In London heiratete sie den emigrierten Kinderarzt Edmund Nobel aus Wien, der zwei Jahre später verstarb. Emmy beschrieb in 80 Publikationen besondere zellwandlose Formen einiger Bakterienarten und trug wesentlich zur Entdeckung der Mykoplasmen („Pleuropneumonia-like organisms“) und deren Bedeutung als Krankheitserreger bei. Seit 1980 wird der Emmy Klieneberger-Nobel Award für herausragende Forschungsleistungen zu Mykoplasmen vergeben.
Der später geadelte Bernard Katz wurde 1911 als Sohn einer russischen Pelzhändlerfamilie in Leipzig geboren, promovierte 1934 und floh bereits 1935 an das University College London zu A. V. Hill. Katz hatte den Streit in der Zeitschrift Nature zwischen dem deutschen Judenhasser J. Stark und Hill gelesen und sofort die Konsequenzen gezogen. Für die Entdeckungen über die Mechanismen der Freisetzung des Transmitters Azetylcholin in „Quanten“ in den Synapsen erhielt er 1970 den Nobelpreis (gemeinsam mit U. von Euler-Chelpin und J. Axelrod). Seine Ergebnisse resultierten aus Studien über Aktionspotenziale (durch K/Na-Austausch), Organophosphate und Organochloride, das heißt Nervengifte und Pestizide.
Der Biochemiker Sir Hans Adolf Krebs (1900–1981, geadelt 1958) wurde in Hildesheim geboren, studierte Medizin und Chemie und war von 1926 bis 1930 bei Otto Warburg, den er hoch schätzte [4]. Als Privatdozent ging er 1931 zu S. Thannhauser an die Medizinische Klinik in Freiburg. An Gewebeschnitten und mit der Warburgtechnik klärte er die Harnstoffbildung auf. Er erkannte als erster, dass die einzelnen Reaktionen in einem zyklischen Prozess miteinander verbunden sind. Bei Durchsetzung des Antijudenerlasses war die badische Regierung übereifrig. Der Rektor Wilhelm von Möllendorf hatte ein antisemitisches Plakat der Studenten entfernen lassen und wurde sofort durch das Parteimitglied und Philosophen Martin Heidegger ersetzt.
Hans Adolf Krebs und Fritz Albert Lipmann bei der Nobelpreisfeier 1953 | © Unbekannt, gemeinfrei, wikimedia
Der Dekan Rehn hatte Krebs wenige Wochen vorher schriftlich hoch gelobt und verkündete jetzt seine sofortige Suspendierung vom Dienst. In einem Schwarzwalddorf konnte Krebs die Publikation über die letzten Ergebnisse noch beenden. Die Assistenten packten für Krebs die wichtigsten Geräte (Warburgsche Manometer), dann begab er sich auf die Reise (am Bahnhof war nur sein später nach Schottland emigrierter Assistent Heinz Fuld) nach England zu Frederick G. Hopkins, der insgesamt sechs Flüchtlinge aufnahm. Krebs setzte sofort mit den mitgebrachten Geräten die begonnenen Arbeiten fort und konnte nach 18 Monaten nachweisen, dass eine 4-Kohlenstoffverbindung mit einem noch unbekannten 2-Kohlenstoffmolekül Zitronensäure bildet und einen oxidativen Zyklus zum Ausgangspunkt durchläuft (Krebszyklus, Zitronensäurezyklus). Diese Darstellung schien unglaublich und wurde von der Zeitschrift Nature abgelehnt, die Publikation erfolgte deshalb in der weniger bekannten Zeitschrift Enzymologia. 1988 hat ein anonymer Redakteur von Nature die Ablehnung „als ungeheuerlichsten Fehler des Journals“ bezeichnet. Erst 1953 wurden die Ergebnisse mit dem Nobelpreis gewürdigt, nachdem der Mitpreisträger Fritz A. Lipmann (geb. 1899 in Königsberg, gest. 1986 in New York) durch die Entdeckung von Coenzym A das zunächst hypothetische C2-Startmolekül des Krebszyklus bestätigt hatte.
Die Bedeutung von Stoffwechselzyklen wurde schnell erkannt. Bereits 1947 war das österreichische Ehepaar Cori für einen anderen Zyklus (Glukoselaktat, Glukoneogenese) ausgezeichnet worden [6]. Der Glyoxylatzyklus (Lipid-Kohlenhydrat-Umwandlung) der Bakterien wurde nach 1955 von Krebs, H. Beevers und Hans Leo Kornberg entdeckt. Der jüdischstämmige Kornberg (1928–2019) konnte mit elf Jahren 1939 zu einem Onkel in Yorkshire flüchten, während seine Eltern an der Ausreise gehindert wurden und in Vernichtungslagern umkamen. Nach seinem Oxfordaufenthalt wurde er Professor für Biochemie an verschiedenen Universitäten und Vorsitzender der Königlichen Kommission über Umweltverschmutzung. Mit 67 Jahren wurde er als Professor für Biologie an der Boston Universität berufen.
Die Literatur folgt im zweiten Teil.
Entnommen aus MTA Dialog 1/2021
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