Oliver Sacks (9. Juli 1933 bis 30. August 2015) wurde als jüngstes von vier Kindern in Crincklewood im Nordwesten Londons geboren. Seine Eltern entstammten jüdisch-orthodoxen Familien; sein Vater Samuel war Arzt für Allgemeinmedizin, seine Mutter Muriel Elsie Landau eine der ersten Chirurginnen Englands. Seine drei Brüder wurden ebenfalls Mediziner; dass auch Oliver Arzt werden würde, galt schon früh als ausgemacht.
Als kleiner Junge wurde Sacks während des Krieges eine Zeit lang in ein Internat geschickt. In dieser Zeit vermisste er seine Eltern und sein Zuhause so sehr, dass er mutmaßte, diese frühe Trennung könne der Grund dafür sein, dass er für den Rest seines Lebens Probleme mit den „drei B“ haben sollte: „bonding, belonging and believing“ (Bindung, Zugehörigkeit, Zuversicht). Erschwerend kam hinzu, wie seine Mutter reagierte, als sie verstand, dass ihr Sohn sich für Männer interessierte. „Ich wünschte, du wärest nie geboren“, waren ihre Worte. So habe ihn, schrieb er einmal, wann immer er sich verliebte (was nur viermal geschah), auch ein Gefühl von Scham und Schande befallen.
Mit 27 Jahren verließ Sacks England, ging nach Kanada, Kalifornien, schließlich nach New York, wo er ab 1964 lebte. Eigentlich wollte er sich mit wissenschaftlichen Forschungen einen Namen machen, aber weil er ständig wichtige Dinge im Labor „vergeigte“ oder gar seine gesamten Notizen verlor, konzentrierte er sich irgendwann auf die Arbeit mit Patienten. 1965 nahm er eine Professur für klinische Neurologie am Albert Einstein College of Medicine in New York City an.
Während seiner Forschungen über Migräne stieß Sacks 1966 im Beth Abraham Hospital in der Bronx auf einige Patienten, die schon seit etwa 40 Jahren wie „eingefroren“ waren: Überlebende der Europäischen Schlafkrankheit (Encephalitis lethargica), einer weitverbreiteten Epidemie von 1916 bis 1927. Die Einzelfallstudien wurden Gegenstand seines Buches „Zeit des Erwachens“. Im Verlauf der Experimente mit L-Dopa, einer Vorstufe des Neurotransmitters Dopamin, kam es zu außergewöhnlichen Reaktionen der Patienten: Sie „wachten“ kurzfristig auf, zeigten teilweise gar eine übermotivierte Lebensfreude, bis sie schließlich in ihre Starre zurückfielen. Einige der Fallgeschichten thematisierte zunächst Harold Pinters Theaterstück „A Kind of Alaska“, bevor sie 1990 unter dem Titel „Zeit des Erwachens“ mit Robin Williams und Robert De Niro in den Hauptrollen verfilmt wurden. Das machte Sacks weltweit bekannt, und viele seiner zwischenzeitlich veröffentlichten Bücher erfuhren eine große Nachfrage.
In seinem Bestseller „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ erzählt Sacks 20 Geschichten von Menschen, die aus der „Normalität“ gefallen sind, weil physische Veränderungen beziehungsweise Verletzungen des Gehirns psychische Störungen hervorgerufen haben. Er schreibt: „Eine Hirnverletzung, ein kleiner Tumult in der cerebralen Chemie – und wir geraten in eine andere Welt.“ Das Buch ist allgemeinverständlich geschrieben und behandelt kaum die medizinisch-neuropsychologische Seite, sondern veranschaulicht die Welt, in der diese Menschen leben. Es erklärt, wie Wahrnehmung allein vom Gehirn abhängt und Realität dort entsteht. Sacks’ große Gabe war es, Patienten nicht als krank anzusehen, sondern als einzigartige Persönlichkeiten, deren Symptome faszinierende Abweichungen von der sogenannten Norm darstellen. Und er schilderte die einzelnen Fälle so unvoreingenommen, liebevoll und mitreißend, dass man es als Leser schließlich auch nicht weiter verwunderlich findet, von einem Mann zu hören, der glaubte, neben ihm im Bett läge ein fremdes Bein und, als er dieses vom Bett hinunterschubste, extrem überrascht war, hinterherzufallen – eine Angelegenheit, die sich mehrfach wiederholte. Sacks schilderte seriös und spannend zugleich, wie es sein kann, dass ein Mann seine Frau mit einem Hut verwechselt oder ein Patient zwar Dinge sieht, sie aber nicht beim Namen nennen kann und so beispielsweise eine Rose als „rotes, gefaltetes Gebilde mit einem geraden grünen Anhängsel“ identifiziert. Die Titelgeschichte wurde 1987 Gegenstand der gleichnamigen Oper von Michael Nyman. Es gibt eben, lernt man bei Sacks, mehr als nur eine Realität, in der man selber lebt. Im Zusammenhang mit Krankheit hat das viel mit Würde zu tun. Sacks Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. 2002 wurde er mit dem Wingate Literary Prize ausgezeichnet.
Zu Beginn des Herbstsemesters 2007 nahm er einen Ruf an die Columbia University an. Dort unterrichtete er nicht nur als Mediziner, sondern auch in mehreren anderen Fachgebieten, unter anderem in Musiktheorie. Abgesehen von seiner Arbeit mit Patienten und der als Schriftsteller interessierte er sich für Mozart, Farne, Fotografieren, Tintenfische, allgemein Kopffüßer, Gravitationswellen, Vulkane und das zwölfbändige „Oxford English Dictionary“, das er tatsächlich ganz gelesen hatte. In einem rührenden Absatz beschrieb er sich selbst als sozial ungeschickt, unbegabt für Smalltalk, schüchtern, unfähig, Gesichter wiederzuerkennen, schwerhörig und desinteressiert an aktuellen Themen, seien die nun politisch, sozial oder sexuell. So gut wie nie spreche er mit Menschen auf der Straße.
Mit Ende siebzig hatte Sacks sich nach einer Ewigkeit wieder verliebt – und es zum ersten Mal gewagt, eine Beziehung einzugehen. Seither lebte er mit dem Schriftsteller Billy Hayes zusammen, was er als „großes, unerwartetes Geschenk“ beschrieb – „nach einem ganzen Leben auf Distanz“.
Im Februar 2015 widmete er sich in einem Essay für die New York Times seiner Krebserkrankung und dem Umgang mit seinem bevorstehenden Tod. Neun Jahre zuvor war er wegen eines Melanoms am Auge behandelt worden, wodurch er die Sehfähigkeit auf diesem Auge einbüßte. Er wusste, dass angesichts der nun bei ihm diagnostizierten Lebermetastasen sein Tod absehbar war. Sacks starb an den Folgen dieser Erkrankung am 30. August 2015 im Alter von 82 Jahren in Manhattan.
Die bekanntesten Werke
Migräne, 1970
Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, 1985
Stumme Stimmen, 1989
Der Tag, an dem mein Bein fortging, 1989
Awakenings: Zeit des Erwachens, 1990
Eine Anthropologin auf dem Mars, 1995
Die Insel der Farbenblinden, 1997
Onkel Wolfram, 2001
Die feine New Yorker Farngesellschaft. Ein Ausflug nach Mexiko, 2004
Musicophilia: Tales of Music and the Brain (Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn), 2007
The Mind’s Eye (Das innere Auge. Neue Fallgeschichten), 2010
Hallucinations (Drachen, Doppelgänger und Dämonen), 2012
On the Move (On the Move – mein Leben), 2015
Literatur
1. www.faz.de, Oliver Sacks’ Autobiografie, Johanna Adorján, letzter Zugriff am 24. Mai 2015.
2. de.wikipedia.org/wiki/Oliver_Sacks, letzter Zugriff am 22. Januar 2016.
Entnommen aus MTA Dialog 12/2017
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