Universalgelehrte und Heilige

Hildegard von Bingen
Laura Isabel Koch
Hildegard von
Briefmarke zum 900. Geburtstag von Hildegard von Bingen © Peter Nitzsche, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5895514
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Am 10. Mai 2012 dehnte Papst Benedikt XVI. die Verehrung Hildegards von Bingen auf die Weltkirche aus und schrieb sie in das Verzeichnis der Heiligen ein. Am 7. Oktober 2012 erhob er sie außerdem zur Kirchenlehrerin („Doctor Ecclesiae universalis“).

Hildegard  (1098 bis 17. September 1179) wurde als zehntes Kind einer Familie von Edelfreien in Bermersheim von der Höhe, Rheinhessen (Ort der Taufkirche) oder in Niederhosenbach (damaliger Wohnsitz des Vaters Hildebrecht von Hosenbach) geboren – weder der genaue Geburtstag noch der Geburtsort sind bekannt. Das wahrscheinliche Geburtsdatum lässt sich anhand ihrer Schrift „Scivias Domini“ (Wisse die Wege des Herrn, 1141–1151) näher auf die Zeit zwischen dem 1. Mai und dem 17. September 1098 eingrenzen. Als zehntes Kind der Eltern sollte sie ihr Leben der Kirche widmen (ein Zehnter an Gott).

Schon als kränkliches Kind hatte von Bingen Visionen. Sie behielt diese prophetische Gabe, vorauszusehen und Gegenwärtiges im Blick auf die Zukunft richtig zu deuten, ihr Leben lang. In ihrem achten Lebensjahr wurde sie von ihren Eltern als Oblatin dargebracht und mit der acht Jahre älteren Jutta von Sponheim, später ihre Lehrerin, in religiöse Erziehung gegeben. Das Leben in der Klause war abgeschieden, außer zu Jutta hatte sie nur Kontakt zu den wenigen anderen Mädchen, die zusammen mit ihr in der Einsiedelei lebten. Ansonsten verbrachte von Bingen ihre Kindheit mit Beten, Sticken und Kontemplation. Auch dort war sie immer wieder krank, kaum fähig zum Gehen, oft durch Sehbehinderungen eingeschränkt. Ihr Gelübde als Nonne legte sie 1114 im Alter von 16 Jahren ab. Nach dem Tode Juttas in der mittlerweile zum Kloster gewachsenen Klause wurde von Bingen mit 38 Jahren 1136 zur Leiterin der Gemeinschaft gewählt. Mehrfach kam es zu Auseinandersetzungen mit Abt Kuno von Disibodenberg, weil sie die Askese, eines der Prinzipien des Mönchtums, mäßigte. So lockerte sie in ihrer Gemeinschaft die Speisebestimmungen und kürzte die durch Jutta festgelegten, sehr langen Gebets- und Gottesdienstzeiten. Offener Streit brach aus, als von Bingen mit ihrer Gemeinschaft ein eigenes Kloster gründen wollte. Die Benediktiner von Disibodenberg stellten sich dem entschieden entgegen, da sie deren Kloster Popularität verschaffte.

Auf dem Rupertsberg bei Bingen an der Nahe gründete sie 1147 schließlich doch ihr eigenes Kloster. 1151 kam es zu neuen Auseinandersetzungen mit geistlichen Amtsträgern: Der Mainzer Erzbischof Heinrich und sein Bremer Amtsbruder verlangten, dass Richardis von Stade, die Schwester des Bremer Erzbischofs, das neue Kloster verlassen und Äbtissin des Klosters Bassum werden sollte. Von Bingen verweigerte zunächst die Freistellung ihrer engsten Mitarbeiterin, aber die beiden Erzbischöfe setzten sich schließlich durch. Allerdings bestätigte Erzbischof Heinrich nach dieser Einigung schließlich die Überschreibung der durch von Bingens Ruf sehr umfangreich gewordenen Klostergüter. Dieser ansteigende Reichtum wirkte sich auf das Leben der Gemeinschaft aus und rief Kritik hervor. So griffen mehrere Geistliche, aber auch Leiterinnen anderer Gemeinschaften von Bingen an, weil ihre Nonnen entgegen dem evangelischen Rat der Armut angeblich luxuriös lebten und nur Frauen aus adligen Familien in Rupertsberg aufgenommen wurden. Da die Zahl der Nonnen im Rupertsberger Kloster ständig zunahm, erwarb sie 1165 das leerstehende Augustinerkloster in Eibingen und gründete dort ein Tochterkloster, in das auch Nichtadelige eintreten konnten.

Von Bingen war Beraterin vieler Persönlichkeiten. Im Verlauf ihres Lebens unterhielt sie rege Kontakte zu hohen Würdenträgern der Welt, beispielsweise stand sie mit Kaiser Barbarossa, dem Papst und Bernhard von Clairvaux in Verbindung. Es ist ein umfangreicher Briefwechsel (mehr als 300 Briefe) erhalten geblieben, der auch deutliche Ermahnungen gegenüber hochgestellten Zeitgenossen enthält, sowie Berichte über weite Seelsorgereisen und ihre öffentliche Predigertätigkeit. Bei der Leitung ihrer Anhängerschaft und zur Begründung ihrer geschriebenen Texte beruft sich von Bingen auf Visionen, die nach ihrer eigenen Darstellung 1141 unwiderstehlich stark wurden. Unsicher über die göttliche Herkunft ihrer Visionen suchte sie in einem aufgewühlt klingenden Brief Unterstützung bei Bernhard von Clairvaux, der sie beruhigte und antwortete:

„Wir freuen uns mit dir über die Gnade Gottes, die in dir ist. Und was uns angeht, so ermahnen und beschwören wir dich, sie als Gnade zu erachten und ihr mit der ganzen Liebeskraft der Demut und Hingabe zu entsprechen. [… ] Was können wir übrigens noch lehren oder wozu ermahnen, wo schon eine innere Unterweisung besteht und eine Salbung über alles belehrt?“ ###more###

1141 begann von Bingen in Zusammenarbeit mit Propst Volmar von Disibodenberg und ihrer Vertrauten, der Nonne Richardis von Stade, ihre Visionen und theologischen wie anthropologischen Vorstellungen niederzuschreiben. Ihr Hauptwerk „Scivias“ entstand in einem Zeitraum von sechs Jahren. Das Buch enthält 35 Miniaturen theologischen Inhalts, die äußerst kunstvoll in leuchtenden Farben gemalt sind und hauptsächlich zur Veranschaulichung des komplizierten und tiefsinnigen Textes dienen. Während einer Synode in Trier bekam von Bingen 1147 schließlich von Papst Eugen III. die Erlaubnis, ihre Visionen zu veröffentlichen. Diese Erlaubnis stärkte auch ihre politische Bedeutung. Darüber hinaus stand sie mit vielen geistlichen und weltlichen Mächtigen in Korrespondenz. 1141 erlebte sie eine Erscheinung, die sie als Auftrag Gottes verstand, ihre Erfahrungen aufzuzeichnen:

„Ich aber, obgleich ich diese Dinge hörte, weigerte mich lange Zeit, sie niederzuschreiben – aus Zweifel und Missglauben und wegen der Vielfalt menschlicher Worte, nicht aus Eigensinn, sondern weil ich der Demut folgte und das so lange, bis die Geißel Gottes mich fällte und ich ins Krankenbett fiel; dann, endlich [… ] gab ich meine Hand dem Schreiben anheim. Während ich’s tat, spürte ich [...] den tiefen Sinn der Heiligen Schrift; und ich erhob mich so selbst von der Krankheit durch die Stärke, die ich empfing und brachte dies Werk zu seinem Ende. [...]

Die sehr bildlichen Beschreibungen von Bingens körperlicher Zustände und ihrer Visionen interpretierte der Neurologe Oliver Sacks als Symptome einer schweren Migräne, speziell aufgrund der von ihr geschilderten Lichterscheinungen/Auren. Sacks und andere moderne Naturwissenschaftler gehen davon aus, dass sie an einem Skotom litt, das diese halluzinatorischen Lichtphänomene hervorrief.

Zwischen 1150 und 1160 verfasste von Bingen auch medizinische Abhandlungen. Nach 1150 entstand „Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum“ (Buch von den Geheimnissen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe). Das Buch beschäftigt sich mit der Entstehung und Behandlung von verschiedenen Krankheiten. Krankheit ist für sie ein Defizit oder Ungleichgewicht, Gesundheit dagegen das Gleichgewicht der Seele. Das zweite der naturkundlichen Werke heißt „Physica“. Ihre Leistung dabei liegt unter anderem darin, dass sie das damalige Wissen über Krankheiten und Pflanzen aus der griechisch-lateinischen Tradition mit dem der Volksmedizin zusammenbrachte und erstmals die volkstümlichen Pflanzennamen nutzte. Sie entwickelte dabei eigene Ansichten über die Entstehung von Krankheiten, Körperlichkeit und Sexualität. Außerdem verurteilte sie jegliche sexuellen Handlungen, die nach dem theologischen Verständnis gegen die göttliche Schöpfungsordnung verstoßen. Eigene medizinische Verfahren entwickelte sie nicht, sie trug lediglich bereits bekannte Behandlungsmethoden aus verschiedenen Quellen zusammen. Von Bingens Krankheitstheorie ist der antiken Viersäftelehre sehr ähnlich, nur mit abweichenden Bezeichnungen. In ihren über Jahrzehnte bis zu ihrem Tod geschriebenen Büchern „Liber simplicis medicinae“ und „Liber compositae medicinae“ hat von Bingen mehr als 280 Pflanzen und Bäume katalogisiert und nach ihrem Nutzen für Kranke aufgelistet. Der Rupertsberg wurde das Zentrum der Kranken, Hilfe- und Ratsuchenden des ganzen damaligen Rheingaus.

Man nannte die wohl größte Mystikerin Deutschlands ehrfurchtsvoll Tischgenossin Gottes. Von Bingen war Künstlerin und Wissenschaftlerin, Mystikerin und Ärztin, Dichterin und politisch engagiert, dennoch von zartem und gebrechlichem Wesen und dies in einer von Männern dominierten Welt. Ihre Regeln für eine gesunde Lebensführung klammerten auch die Sexualität nicht aus, ihre Gedanken zur Rolle der Frau waren mutig und richtungsweisend. Ihr selbstbewusstes und charismatisches Auftreten führte zu ihrer großen Bekanntheit. Sie predigte als erste Nonne öffentlich dem Volk die Umkehr zu Gott. Wegen ihres Glaubens und ihrer Lebensart wurde sie für viele Menschen zur Wegweiserin. Sie begründete diese Auffassung, indem sie sich für ihre theologischen und philosophischen Aussagen immer wieder auf Visionen berief. Damit sicherte sie ihre Lehren gegen die Lehrmeinung ab, dass Frauen aus eigener Kraft nicht zu theologischen Kenntnissen in der Lage seien. Ihre moralische Lehre faszinierte zu ihrer Zeit nicht nur die Nonnen, sondern auch Mönche, Adlige und Laien. Mit starkem Selbstbewusstsein setzte sie ihre Interessen gegen andere durch, sowohl aus Überzeugung als auch zur Durchsetzung politischer Ziele (zum Beispiel bei der Bestattung eines begüterten Exkommunizierten oder dem Abstreiten der Besitzrechte des Disibodenberges). Vor allem sind es aber auch die drei theologischen Werke, die ihren damaligen Ruhm begründeten. Ihr Hauptwerk „Scivias“ wurde schon erläutert. Das zweite Visionswerk „Liber vitae meritorum“ (Buch der Lebensverdienste) könnte man als visionäre Ethik beschreiben. In ihm werden 35 Laster und Tugenden gegenübergestellt. Das dritte Buch „Liber divinorum operum“ (Buch der göttlichen Werke) ist von Bingens Schau über Welt und Mensch. Sie beschreibt die Schöpfungsordnung als etwas, in dem Leib und Seele, Welt und Kirche, Natur und Gnade in die Verantwortung des Menschen gestellt sind. Damit schuf sie eine frühe Form der Tierkreiszeichen.

Schon zu Lebzeiten wurde von Bingen wie eine Heilige verehrt. Bereits 1228 wurde das offizielle Heiligsprechungsverfahren für sie begonnen. In einer original erhaltenen Urkunde aus dem Jahr 1233 bescheinigen drei Mainzer Kleriker, dass sie im Auftrag des Papstes von Bingens Lebenswandel, Ruf und Schriften mit positivem Ergebnis überprüft hätten. Aufgrund von Streitigkeiten zwischen Papst Innozenz und dem Mainzer Domkapitel kam es jedoch nicht zu einer offiziellen Kanonisation. Im 16. Jahrhundert wurde Hildegard von Bingen dennoch in die Erstausgabe des Martyrologium Romanum (Verzeichnis der Heiligen der römisch-katholischen Kirche) aufgenommen, auch ohne die Kanonisation. An ihrem Grab werden zahlreiche Wunder erwähnt.

Von Bingen starb am 17. September 1179 im 82. Lebensjahr im Kloster Rupertsberg. Sie hat als eine der bedeutendsten Frauen des Mittelalters eine große Anzahl von Reliquien geschenkt bekommen und zusammengetragen, die sich bis 1631 im Kloster Rupertsberg befanden. Im Dreißigjährigen Krieg wurden sie von der Äbtissin Anna Lerch von Dirmstein vor der Vernichtung gerettet und seit 1641 befinden sie sich in der Kirche des alten Klosters Eibingen. In der Kirche „Sankt Hildegard und St. Johannes des Täufers“ in Eibingen ist der Reliquienschrein im Altarraum des alten Klosters, der heutigen Pfarrkirche von Eibingen, beheimatet. Die Kirche hat heute vor allem als Wallfahrtskirche eine große Bedeutung.

Literatur

1. www.heiligenlexikon.de/BiographienH/Hildegard_von_Bingen.html.
2. de.wikipedia.org/wiki/Hildegard_von_Bingen.
3. www.hildegard-von-bingen-medizin.de.
4. www.gutenberg.spiegel.de/autor/hildegard-von-bingen-275.

Entnommen aus MTA Dialog 10/2017

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