Medizinfortschritt mit Nebenwirkung (Teil 2)

Eine Bestandsaufnahme der Hightechmedizin in den letzten 50 Jahren in Deutschland
Hardy-Thorsten Panknin
Titelbild des zweiten Teils des medizinhistorischen Beitrags über die Hightechmedizin der letzten 50 Jahre in Deutschland
Die Nemesis der Medizin – die Kritik der Medikalisierung des Lebens von Ivan Illich. Mit freundlicher Erlaubnis des C.H. Beck Verlages in München © C.H.Beck
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Gefahr medizinischer Nihilismus: In dem goldenen Zeitalter der Medizin – den 1940er- und den frühen 1970er-Jahren – herrschte sogar die Zuversicht, die Medizin mit ihren Ärzten könnte uns helfen, egal wie wir leben. Eine Fülle futurologischer Traktate, die überwiegend von den spektakulären technischen Möglichkeiten einer kommenden Medizin ausgingen, mit der hoffnungsvollen Zukunftsprognose, dass der heutige Mensch 150 Jahre alt werden würde. Man werde Krankheit schon im Entstehen erkennen und die Frühstadien heilen, womöglich sogar die Krankheitsentstehung überhaupt durch Primärprävention verhindern.

Aber diese Träume haben sich nur zu einem sehr kleinen Teil bestätigt. Der Versuch, Krankheit in großem Stil zu verhüten, ist bislang fehlgeschlagen. Diese Entwicklung, die sich besonders in den 1960er-Jahren herauskristallisierte, ist im Zusammenhang mit einer zunehmenden wissenschaftlichen und technischen Durchdringung der Medizin zu sehen, die in dem genannten Zeitraum den Arbeitsprozess vor allem im Bereich der stationären medizinischen Versorgung prägte [15–18, 38].

Prof. Dr. med. Rudolf Schoen (31. März 1892–11. März 1979), deutscher Hochschullehrer für Innere Medizin an der Universität Göttingen und Gründungsrektor der Medizinischen Hochschule Hannover, sprach in dem Kontext vom Nihilismus in therapeutischen Fragen: „So hat sich jetzt das Blatt völlig gewendet, und es ist eher das Gegenteil des therapeutischen Enthusiasmus bei vielen Ärzten zu fürchten, die unkritisch alles Neue aufnehmen und gut finden“ [3]. Zu jener Zeit kritisierte auch Ivan Illich (4. September 1926–2. Dezember 2002), ein österreichisch-US-amerikanischer Autor, Kulturkritiker, Philosoph, Theologe und römisch-katholischer Priester, die gegenwärtige Medizin besonders scharf. In seinen Büchern mit den provokanten Titeln „Die Enteignung der Gesundheit – Medical Nemesis“ und „Die Nemesis der Medizin – die Kritik der Medikalisierung des Lebens“ ist zu lesen [33]: „Heute ist es die Medizin selbst, die die Gesundheit der Menschen bedroht.“ Seine Werke stellten in jener Zeit einen gezielten Angriff auf die heiligste Überzeugung des wissenschaftlichen Zeitalters dar: den Glauben an die Allmacht der Medizin. Wohl selten in der Geschichte der Wissenschaft ist die Entthronung einer ganzen Disziplin so radikal vorgenommen worden wie hier. Illich identifizierte drei Kategorien der von der Medizin verursachten Krankheiten. Er nannte sie klinische, soziale und strukturelle „latrogenesis“ (vom Arzt verursacht). Die Menschen seien trotz allen angeblichen Fortschritts der Wissenschaft nicht gesünder, sondern kränker geworden. Medizin – der Besuch beim Arzt, die Tablette – seien zum Verbrauchsgut geworden, der Patient zum süchtigen Verbraucher. Die monströse Apparatur der Medizin täusche vor, dass der Mensch seiner totalen Reparierbarkeit immer näherkomme. Gesundheit, Krankheit und Tod seien keine natürlichen Erfahrungen des Menschen mehr, sondern Definitionsergebnisse eines ausschließlich der Ärztezunft vorbehaltenen Rituals. Die Pervertierung des Heilverfahrens werde am deutlichsten beim technisierten Tod. Wann ein Mensch tot sei, das sei der Zeitpunkt, zu dem er nicht mehr auf die technisch-therapeutischen Maßnahmen der künstlichen Lebensverlängerung anspreche, er also als Verbraucher medizinischer Leistungen „unnütz“ geworden sei. Medizin sei zur Nemesis geworden, die Heilung verwandele sich in Bedrohung. Diese besonders kritischen Werke Illichs haben bei den Lesern – es sind weltweit mehrere Auflagen in Millionenhöhe in verschiedenen Sprachen erschienen – für große Verunsicherung gesorgt, denn das Anliegen der ärztlichen Heilkunde, kranken und verletzten Menschen zu helfen, sie nach Möglichkeit zu heilen oder zumindest ihren Zustand zu optimieren und ihr Leiden zu lindern, ist in den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte entstanden. Dabei ist das Handeln der Mediziner vor allem von der Ehrfurcht vor dem Leben geprägt. Die Ärzte sahen durch Illichs Bücher einen massiven Angriff auf ihren Primärauftrag: zu heilen, zu lindern, jeden Kranken anzunehmen und fürsorglich zu behandeln. Das Buch von Illich: „Die Nemesis der Medizin – die Kritik der Medikalisierung des Lebens“ ist am 13. Mai 2021 unverändert in der 7. Auflage erschienen.

Dr. med. Bernd Fleiß aus Neckarhäuserhof hat die Ärzteschaft im März 1975 im Deutschen Ärzteblatt unter der Headline „Die Entarztung der Welt“ auf das neue Buch aufmerksam gemacht: „Illich macht sich über die Zukunft unseres Gesundheitswesens Sorgen. Er befindet sich damit in einer großen Gesellschaft, zu der auch wir uns zählen. Schon die allerersten Sätze seines Buches aber künden an, wie der Pionier Illich die gegenwärtige Lage beurteilt: Das medizinische Establishment ist zu einer Hauptgefahr für die Gesundheit geworden. Die Abhängigkeit von professioneller Behandlung beeinflusst alle sozialen Beziehungen. Illich lastet allein den Ärzten an, dass die Gesellschaft morbide geworden ist. Sie, die Ärzte, hätten sie nach ärztlicher Hilfe süchtig gemacht. … Das Buch birgt eine Fülle von Ungereimtheiten. Peinliche Halbwahrheiten wechseln in bunter Reihe mit grotesken Ansichten ab. Bei dem heutigen Trend wird das Buch ein gefundenes Fressen für viele Zeitschriften sein. Trotzdem ist das Buch im positiven Sinne anstößig. Es wird unzählige Diskussionen auslösen“ [34].

Die deutsche Ärzteschaft hat im Jahre 1977 eigens ein Buch zu Illichs provokanten Thesen mit dem Titel „Plädoyer für eine neue Medizin“ herausgegeben. In diesem Buch wurden Illichs Thesen korrigiert und einer intensiven Diskussion unterzogen. Größter Kritiker und Herausgeber dieses Werkes war der Heidelberger Physiologe und Sozialmediziner Prof. Dr. med. Hans Schaefer [4]. Er widersprach vehement: „Illich spricht von der medizinischen Nemesis; damit wollte er nach griechischem Vorbild zu verstehen geben, dass die Rache der Götter über eine Medizin komme, die sich zu viel angemaßt habe. Nemesis ist aber ein dunkles Wort, ein Verdikt ohne Rettung, von der Unerbittlichkeit der griechischen Tragiker ersonnen. Die Häresie ist ein Phänomen menschlichen Irrens, der Korrektur bedürftig, aber auch zugänglich, etwas dem Prinzip nach nicht Falsches, sondern nur Unvollständiges.“ In einer Welt wachsender Komplikation und steigender Schwierigkeit des Verständnisses sei jedoch die Häresie fast ein physiologisches Phänomen. Das System der Medizinkritik, wenn man überhaupt von einem solchen sprechen könne, sei am konsequentesten und in durchdachtester Form von Illich entwickelt worden. Die anderen Kritiker der wissenschaftlichen Medizin würden dagegen meist nur Teilaspekte dieses Konzepts von Illich vertreten, aber nie über ihn hinausgehen [9, 15].

Diese universale Sicht der Kritik in Illichs Buch hat wahrscheinlich seine ungewöhnlich starke öffentliche Resonanz bewirkt. Es ist in der Tat eine Art „Bibel der Kritik“ (bis in die Gegenwart: Anm. d. Verf.), in der sich jeder einzelne Kritiker mit höchster sprachlicher und gedanklicher Brillanz repräsentiert findet. Der Titel der ersten deutschen Ausgabe von Illichs Buch sagt, wie umfassend seine Kritik gemeint ist: Er lautet „Die Enteignung der Gesundheit“ und bedeutet, dass das ärztliche Verhalten dem Kranken gegenüber nicht aus innerer Notwendigkeit, sondern zum Zwecke der Manipulation seiner Gesundheit erfolge. Noch grotesker ist der Untertitel: „Die Medizin ist zu einer Hauptgefahr für die Gesundheit geworden“. Dieser Satz, auf der ersten Umschlagseite eines Bestsellers, ist eine Ungeheuerlichkeit und stempelt die Angehörigen von rund 1.000 medizinischen Fakultäten in aller Welt zu Ignoranten oder zu Betrügern [4]. „Strenger als der ehemalige päpstliche Hausprälat und Monsignore Ivan Illich hat noch keiner den Medizinmännern die Leviten gelesen“, schrieb Klaus Franke, Redakteur bei „Der Spiegel“, in seiner Nummer 27 im Jahre 1975 zu dem Buch. Der Grund für die geradezu aggressiv negative Einstellung zur Hightechmedizin liegt in Missverständnissen. Rainer Flöhl (14. Januar 1938–14. Februar 2016), ein deutscher Wissenschaftsjournalist, hat im Jahre 1979 im Springer Verlag eine weitere Monografie gegen Illichs Thesen unter dem Titel „Maßlose Medizin? Antworten auf Ivan Illich“ herausgegeben. In diesem Werk vertreten Soziologen und Mediziner erneut ihre wissenschaftlichen Standpunkte zu Illichs Thesen. Der Medizinsoziologe Prof. Dr. med. Horst Baier (26. März 1933–2. Dezember 2017) vermerkte zu Illichs Thesen: „Seine Zielrichtung sind die schwelenden Existenz- und Sicherheitsängste bei den Industrie- und christlichen Nachkolonialvölkern, denen er mit einer Kaskade von öffentlichen Auftritten, Medienspots, Kongressdisputen, pseudo-akademischen Publikationen die Untergangsvisionen des Industrialismus aufsetzt. Im schnellen Wechsel der Themen und Thesen, der Prophezeiungen und Umkehrappelle reißt er die kritischen Stellen der modernen Zivilisation zu solch schaurigen Löchern auf, dass die Zeitgenossen meinen, in die Hölle eines selbstverschuldeten Weltuntergangs zu blicken. Es ist kein Zweifel, Ivan Illich bedient sich alter agitatorischer Mittel der Wanderpropheten“ [40]. Prof. Dr. Fritz Hartmann (17. November 1920–10. Februar 2007), Internist an der Medizinischen Hochschule Hannover, beklagte: „Iatrogenese ist für Illich der Name einer Epidemie, einer Pandemie, die selbstverantwortliche Lebensbewältigung bedroht. Die Hauptsymptome sind: Die Therapie schafft mehr Schäden als sie Krankheiten heilt; der Wille der Menschen, Schmerzen zu ertragen, Sterben zu erleiden, Krankheiten zu erdulden, sich selbst zu helfen, ist gelähmt. Der Erreger und zugleich diese Krankheit sind ‚die Ärzte‘ … Der Zweifel Illichs an der moralischen Integrität der Ärzte in Bezug auf den Willen und das Vermögen mehr zu nützen als zu schaden wiegt schwer“ [41]. Erneut schrieb auch Schaefer aus Heidelberg – der wohl größte Kritiker – gegen Illichs Thesen: Was die Gesellschaft brauche, sei nicht die Zerstörung der Medizin, sondern Anpassung ihrer Praxis an ein neues Gesellschaftsgefühl, das aber erst entwickelt werden müsse. Das Gefühl, dass Rechte auch Pflichten und deren Erfüllung voraussetzen. Doch das sei eine gesellschaftliche und keine medizinische Aufgabe. Der Mentor und Korrektor sei nicht der Arzt, sondern der Erzieher und letztlich sogar der Politiker [39].

Auch der Berliner Philosoph Heinrich von Nussbaum monierte heftig Illichs Kritik an der Medizin in seinem Buch „Die verordnete Krankheit“: „Denn in Illichs Schauergemälde sind die Beteiligten bereits alle als Missetäter eingestuft: die Pharmaindustrie mit ihren skrupellosen Profitinteressen; die Ärzte, unwillig oder unfähig, sich aus ihrer auszehrenden Umarmung zu lösen; die Patienten, die in ihrer Gedankenlosigkeit und blinden Sucht ein willfähriges Schlachtvieh abgeben; von den Politikern ist sowieso nichts zu erwarten – sie hängen von den Stimmen der einen und der Zustimmung, das heißt den Zuwendungen der anderen ab“ [15].

Die Kritiker kennen weder die Möglichkeiten noch die Schwierigkeiten und Sorgen, die mit dieser Medizin verbunden sind. Zu jener Zeit machten sich besonders Geistliche und Philosophen große Sorgen um die Menschheit, die infolge der monströsen Fortschritte in der gesamten Wissenschaft aufkamen. Leiden, Krankheit und Sterben hatten keinen Raum im Alltag. Religiöse Bindungen, die Hilfestellung bei der Bewältigung existenzieller Fragen geben könnten, hatten an Kraft verloren. Paul Johannes Tillich (20. August 1886–22. Oktober 1965), ein deutscher und später US-amerikanischer protestantischer Theologe und Religionsphilosoph, schrieb in seiner sehr lesenswerten Monografie „Die verlorene Dimension – Not und Hoffnung unserer Zeit“: „Wenn man die Symbole des Heilands und der Erlösung, die auf die heilende Kraft im menschlichen Leben und in der Geschichte hindeuten, auf die horizontale Ebene übersetzt, werden sie zu Berichten von einem halbgöttlichen Wesen, das aus dem Himmel stammt und in ihn zurückkehrt. So entstellt, haben die Symbole keinen Sinn mehr für Menschen, deren Weltbild durch die Naturwissenschaft geprägt ist“ [43]. Wer tatsächlich weiß oder sogar erlebt hat, wie viel menschliche Zuwendung, Liebe und Sorge dem leidenden Patienten in unseren Krankenhäusern in den Intensivstationen, in der Organtransplantation oder in der Onkologie gegeben werden, der wird mit Kritik sorgfältiger und differenzierter umgehen – trotz des nach wie vor aktuell eklatanten Mangels an Pflegefachkräften und inzwischen auch an Ärzten.

Medizin als Signum einer inhumanen Wissenschaft

Trotz der segensreichen Fortschritte in der gesamten Medizin stagniert gegenwärtig die Lebenserwartung (in einigen Regionen geht sie sogar wieder zurück). Wird es daher in der Zukunft ein Mehr an gesunden oder ein Mehr an eher kranken älteren Menschen geben? Typische Alters- und Wohlstandskrankheiten wie Diabetes mellitus, Gefäßkrankheiten, Koronarstenosen und arterielle Hypertonie lassen sich medikamentös und interventionell gut beherrschen. Bei Gelenkverschleiß wird es fast schon als selbstverständlich angesehen, dass Menschen in den Industrienationen bis in die höchsten Altersgruppen mit künstlichen Hüft- oder Kniegelenken versorgt werden. Die Zunahme operativer Eingriffe, die auch bei hochbetagten Menschen noch vorgenommen werden, hat auch das Altersspektrum intensivmedizinisch behandelter Patienten stark beeinflusst. Die Intensivmedizin mit ihren zahlreichen supportiven intensivmedizinischen Organtherapien (Apparatemedizin) wurde als das Signum einer inhumanen, einseitig technisch orientierten Medizin, die über die Bedürfnisse der Patienten hinweggeht, betrachtet. Besonders die Medien haben Ende der 1970er-Jahre die anfängliche Intensivmedizin in der Bevölkerung als eine inhumane, nur der Sterbensverlängerung – häufig mit Qualen verbundenen – dienenden Medizin verdammt.

Prof. Dr. med. Hans-Peter Schuster (*1937), ein Internist, Hochschullehrer und Intensivmediziner der ersten Stunde, benannte drei wesentliche Kritikpunkte: die Intensivstation als Sterbestation, die Intensivstation als Ort der Tortur für alte Menschen, die Intensivmedizin als Quelle eines Überlebens um den Preis einer qualvoll eingeschränkten Lebensqualität, im Extremfall eines bloßen „Dahinvegetierens“. Hier muss richtiggestellt werden, dass eine insgesamt schlechte Erinnerung an die Intensivstation nur von zwölf Prozent der Patienten über 70 Jahre geäußert wurde. 65 Prozent der Patienten auf der Intensivstation gaben im Nachhinein eine insgesamt gute Erinnerung an. Als Gründe wurden genannt: Geborgenheit, Schmerzlinderung, optimale Versorgung, Umsorgtheit, Überwachung, ständige Anwesenheit von Ärzten und Pflegepersonal, unmittelbare Hilfe, Sicherheit, lebensrettende Hilfe durch Apparate, weniger Angst. Nur 7 Prozent hatten ernste Bedenken geäußert [54]. Intensivmedizin umfasst die Behandlung, Überwachung und Pflege von Patienten, bei denen die für das Leben elementaren beziehungsweise vitalen Funktionen von Atmung, Kreislauf, Homöostase und Stoffwechsel lebensgefährlich bedroht oder gestört sind, mit dem Ziel, diese Funktionen zu erhalten, wiederherzustellen oder zu ersetzen, um Zeit für die Behandlung des Grundleidens zu gewinnen. Ihre Indikationsstellung sollte, solange eine Ungewissheit über den Ausgang der Krankheit besteht, angestrebt werden. Technik ist die größte Helferin ärztlicher Humanitas, nur ihre Anwendung kann dabei falsch, inhuman, gedankenlos oder rücksichtslos sein [1, 3, 4, 15, 17, 18, 20, 23, 27, 35, 44, 45].

Schuster hat auf die Schwierigkeit der Indikationsstellung explizit hingewiesen: „Für die in der Regel gesunden Angehörigen ist das sehr schwierig. Keine Entscheidung ist risikofrei; sie zu akzeptieren, setzt im Grunde ein gewisses Maß an Vertrauen gegenüber dem Arzt voraus. Die Kategorie des Vertrauens ist in der Zeit des mündigen Patienten aus dem Arzt-Patienten-Verhältnis nahezu verschwunden. Konsequent und juristisch korrekt neigen Ärzte dazu, Patienten oder Angehörige aufzuklären, um dann ihnen die Entscheidung zu überlassen, oder wenn man will auch aufzuladen. Für den Verlust der Vertrauenskategorie zahlen ‚wir Ärzte‘ einen hohen Preis. Vor dem Hintergrund einer ihrem Wesen nach aggressiven und risikoreichen Intensivtherapie wird dieser Preis gnadenlos deutlich“ [53].

Die negativen Thesen Illichs gegenüber der modernen Medizin waren im Wesentlichen auf folgenden Aspekten begründet [14]:

  • die privat-ökonomische Ausrichtung der Produktion und Vermarktung von Arzneimitteln und Heilverfahren;

  • die daraus herrührende Kostenexplosion, die zunehmend das Budget der Patienten wie der Krankenkassen und des Staates (beziehungsweise der Kommunen) überlastet;

  • das autoritär verfasste Zunftmonopol der Ärzteschaft, von einem Staat geduldet und gefördert, der mittels Sicherstellungsauftrag und Subsidiaritätsprinzip die Verantwortung für Lebensqualität und Umwelt seiner Bevölkerung abwälzt und auf die Frage verkürzt, was die „Reparaturdienste“ im Lande taugen;

  • die Konzentration der Forschung und Experimente auf Spitzenleistungen und Extremfälle, ohne die gesellschaftlichen Folgen;

  • die Neigung zur Hospitalisierung selbst von leichteren Normabweichlern, sogar natürlicher, ganz regulärer Lebensvorgänge wie Geburt, Altern und Tod;

  • die Überspezialisierung und Übertechnisierung der Heilbehandlungen („Apparatemedizin“);

  • die Schematisierung und Zeitvergeudung durch Bürokratisierung;

  • die Domestizierung von abweichendem Sozialverhalten als krank, irre oder kriminell;

  • die Verbreitung von Arzneimittelsuchten durch leichtfertige und Übermedikamentierung;

  • die mit diesen Heilmethoden und -institutionen verbundene Entmündigung des Kranken wie auch des auf seine Gesundheit Bedachten und so weiter.

So seien die Krankenhäuser Sammelstellen menschlicher Trümmer. Unfallverletzte, stresskranke Manager aller Stufen und Stadien, Krebsleidende aus eigener Schuld (Rauchen) oder gemeinschaftlicher Dummheit (Smog, Abgase, Asbestkrankheit) stellen ein großes Kontingent der Kranken. Vergiftete, Süchtige (Arzneimittel, Drogen, Industrieabfälle wie Blei, Cadmium, Arsen, Quecksilber) sowie zahlreiche Opfer neuartiger Betriebs- und Arbeitsunfälle prägen das moderne Klinikbild [16].

Der Augenarzt und Medizin- und Kunsthistoriker Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Bergdolt (6. Dezember 1947–11. Februar 2023) konstatierte zum Ende des letzten Jahrhunderts: „Dass das Individuum – bei aller Respektierung der genetischen Disposition – für seine Gesundheit auch selbst Verantwortung trägt. Die Gesundheit zu einem bürokratisch juristischen Begriff degradiert wurde, Krankheit und Unfälle nicht nur mit dem Wunsch nach Besserung, sondern auch – Folge einer aufgeblähten Versicherungsmentalität – nicht selten mit finanziellem Gewinn assoziiert ist.“ Bergdolt führte ferner dazu aus, dass die in Deutschland verfochtene Gesundheitspolitik von der propagierten Definition der Weltgesundheitsorganisation ausgehe, wonach Gesundheit einen Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens darstelle, sei aber aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage, die zur Sicherung eines solchen Idealzustandes notwendigen Maßnahmen – von der medizinischen Infrastruktur bis zur flächendeckenden Hightechmedizin für jedermann – zu organisieren und zu finanzieren. Das Diktum der WHO erscheint nicht nur angesichts einer rapide wachsenden Weltbevölkerung, zunehmender ökonomischer Probleme in den westlichen Ländern sowie beunruhigender Krisen in Schwellen- und Entwicklungsländern illusorisch [51].

Der Arzt, Historiker, Philosoph und Religionswissenschaftler Cornelius Borck hat in seiner Monografie „Anatomien medizinischen Wissens – Medizin – Macht – Moleküle“ folgendes Bild der heutigen Medizin skizziert: „Ein inhumaner und seelenloser Reparaturbetrieb, dem der Patient seinen Körper auszuhändigen hat wie sein Auto einer Werkstatt, ohne jedoch in gleicher Weise zum Vertragspartner berechtigt und befähigt zu sein“ [5]. So habe die moderne Medizin mit ihren frühen Durchbrüchen eine Erwartungshaltung des totalen Sieges über Krankheiten provoziert, der sie sich jetzt selbst mehr oder minder hilflos ausgeliefert sehe. Gleichzeitig rücke deren Erfüllung nicht nur immer weiter in die Ferne, sondern werde auch immer zweifelhafter und fragwürdiger. Auf der Makroebene seien die Ausweitung einer medizinischen Kontrolle auf immer mehr Lebensbereiche, die sogenannte „Medikalisierung der Gesellschaft“, und die Kostenexplosion im Gesundheitswesen beziehungsweise dessen Ökonomisierung die einschneidendsten Veränderungen der Medizin in der Gegenwart. Ferner kritisierte er dabei die Krankenhausmedizin. An die Stelle einer ausführlichen Anamnese und Aufnahmeuntersuchung trete immer häufiger das Schema von Eingangstests mit Blutentnahme, Röntgenbild und Urinprobe. Diese würden dann zusammen mit den vorformulierten Fragebögen und den erforderlichen Einwilligungsformularen lediglich die weitere Spezialdiagnostik festlegen. Sei dann anschließend die Therapie festgelegt beziehungsweise eine Operation erfolgreich überstanden, folge auch schon die Entlassung. Und zwar ohne dass es über die wenigen Minuten der ärztlichen Visiten hinaus – die fast ausnahmslos in der Öffentlichkeit des Mehrbettzimmers stattfänden – zu einem persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient gekommen sei [5].

Auch der niedergelassene Internist Dr. med. Mathias Jung (*1933), St. Ingbert/Saar, kritisierte 1989 in seinem Werk „Kranke Medizin“ [46] die Krankenhausmedizin scharf. Er stellte sich mit seinem Buch als Medizin- und Sozialkritiker der Öffentlichkeit, zeigte Strukturen des Medizinbetriebes in den 1990er-Jahren und ihre Wechselwirkungen auf, die sich aus dem individuellen ebenso wie aus dem gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit ergeben: „Unsere Krankenhausmediziner sind (noch stärker als ihre niedergelassenen Kollegen) mehr Gesundheitsingenieure als der Volksgesundheit verpflichtete professionelle Heiler. Insoweit ist die gegenwärtige fundamentale Krise unserer Medizin in Wahrheit eine Krise unserer Gesellschaft.“ Hierzu ist anzumerken, dass seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland zu keinem Zeitpunkt über das Gesundheitswesen so lange, so heftig und so kontrovers gestritten worden ist wie zwischen 1988 und 1989. Zum ersten Mal in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland wurden zuvor gewährte soziale Leistungen wieder abgebaut beziehungsweise eingeschränkt (Anm. d. Verf.).

Das jahrtausendealte Grundgesetz jeder Heilkunde „Salus aegroti suprema lex“ (das Wohl des Kranken hat stets oberste Priorität) gilt heute – jedenfalls in den westlichen Industriestaaten – nur noch bedingt. Insoweit ist die gegenwärtig bestimmende Krise unserer Medizin in Wahrheit eine Krise unserer Gesellschaft. Heute sind Krankenanstalten industrielle Hochleistungskomplexe, biologisch-technischen Reparatureinrichtungen sehr viel ähnlicher als humanen Stätten der Versorgung kranker Mitmenschen oder barmherzigen Auffangstationen für todkranke Patienten. Der kranke Mensch aber muss seine Persönlichkeit und Individualität an der Krankenhauspforte abgeben. Er wird zum Messdatenpatienten, zum Objekt angewandter Naturwissenschaften, dessen biologische Eigenheiten und Normabweichungen man zwar bei der Behandlung berücksichtigt, dessen psychosoziale und psychobiografische Aspekte man aber weitgehend außen vorlässt. Und so wird unbegründet übertriebene Fortschrittsgläubigkeit für Ärzte und Krankenschwestern zur Technikfalle, die uns den eigentlichen Sinn unseres Auftrages vergessen lässt. Seele ist nicht gefragt, kranke Gesamtpersönlichkeiten sind zu diffus und komplex, um exakt gemessen und damit in ihrem Abweichungsgrad quantifizierbar zu werden. Modernen Naturwissenschaftlern – und das sind die meisten Ärzte – sind aber Dinge ein Greul, die man nicht näher definieren und bestimmen kann.

 

Bei der großen Begeisterung für das diagnostisch und therapeutisch Machbare wird leicht übersehen, dass für diese Wundertaten unserer modernen Medizin neben einem ständig steigenden Finanzierungsaufwand auch ein hoher „Blutzoll“ entrichtet werden muss. Denn in unseren Kliniken sterben inzwischen jährlich 16.000 Menschen an Krankheiten, die sie noch nicht gehabt haben, als sie ins Krankenhaus kamen. Und damit doppelt so viele wie auf unseren Straßen. Die Rede ist hierbei nur von den Toten durch nosokomiale Infektionen. Einer der (damals) wenigen hierzulande tätigen Krankenhaushygieniker, Prof. Dr. med. Franz Daschner (*1940) vom Universitätsklinikum Freiburg, hatte in einem kritischen Bericht zur gegenwärtigen Krankenhaushygiene in der Bundesrepublik Deutschland im „Deutschen Ärzteblatt“ moniert, dass es bei uns immer noch zu wenig ärztliches und pflegerisches Hygienefachpersonal gebe und dass dadurch mögliche erhebliche Kosteneinsparungen in unseren Kliniken nicht genutzt würden. Er beanstandete auch den hohen Antibiotikaeinsatz, der oft ohne sinnvolle Indikation erfolge oder zeitlich viel zu lang ausgedehnt werde. Obwohl beispielsweise eine Antibiotikaprophylaxe zur Verhütung postoperativer Wundinfektionen – etwa in der Unfallchirurgie oder der Orthopädie – nur über maximal 24 Stunden angewandt werden sollte, betrage sie in manchen Abteilungen immer noch bis zu 18 Tagen [47, 48].

Fortsetzung und Literaturverzeichnis folgen.

 

Entnommen aus MT im Dialog 9/2023

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