Medizinfortschritt mit Nebenwirkung (Teil 1)

Eine Bestandsaufnahme der Hightechmedizin in den letzten 50 Jahren in Deutschland
Hardy-Thorsten Panknin
Titelbild zur Bestandsaufnahme der Hightechmedizin in den letzten 50 Jahren in Deutschland
Operationssaal 1969 © Queensland Stat Archives, public domain
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In der erwähnenswerten Monografie der beiden Mediziner und Herausgeber, Dr. med. Maria Blohmke und Professor Dr. med. Hans Schaefer (1906–2000), „Erfolge der Medizin“ wurden vor genau 57 Jahren die Segnungen und Grenzen der Medizin in dem Kapitel „Wo steht die Medizin heute“, aus Sicht der Ärzteschaft, in extenso resümiert [3].

Epochale Erfolge waren die Bekämpfung der Infektionskrankheiten, darunter besonders das Kindbettfieber, das unzähligen Müttern und Kindern das Leben raubte: Im Jahre 1960 lag die Müttersterblichkeit in Deutschland noch bei circa 1 Promille, das heißt jede 1.000. Mutter starb nach der Geburt. Die Ausrottung der Infektionskrankheiten war das Resultat der Entdeckung ihrer Erreger sowie der theoretischen Einsicht, dass Mikroben und andere kleinste Lebewesen die Ursache solcher Krankheiten sind. Diesem Denkansatz der Infektiologie verdanken wir, dass die gemeingefährlichen Infektionskrankheiten wie Pest, Cholera, Aussatz, Pocken, Diphtherie, Scharlach oder Geschlechtskrankheiten entweder fast ganz verschwunden – im Sinne eines Panoramawandels – oder doch auf seltene Fälle beschränkt sind. Jedenfalls rotten sie nicht mehr wie eine Geißel Gottes ganze Städte aus und bedrohen den Bestand der Bevölkerung. Der Substitutionstherapie verdanken wir die Möglichkeit, den Ausfall der Produktion lebenswichtiger Substanzen im Körper durch künstliche Zufuhr zu kompensieren und damit das Leben zu retten. So starb vor Einführung der Insulintherapie der Zuckerkranke im Durchschnitt im Alter von ungefähr 30 Jahren. Die Entdeckung des Insulins durch die kanadischen Forscher Frederick Grant Banting und Charles Herbert Best im Jahre 1921 begründete eine neue Ära der Diabetesbehandlung. Besonders die Insulinbehandlung, jüngst auch durch gentechnisch hergestelltes Insulin, ermöglicht es nun, alle Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 in ausreichender Menge mit Human-Insulin zu versorgen – ein Paradebeispiel par excellence der modernen Medizin. Die Sulfonamide, die Antibiotika, haben es uns seit den 1930er-Jahren ermöglicht, nahezu alle bakteriellen Infektionskrankheiten zu beherrschen und großenteils zu heilen (zumindest zwischenzeitlich, Anm. d. Verf.). Die großen Seuchen – man sollte eher von gemeingefährlichen Infektionskrankheiten sprechen –, die Schrecken vergangener Zeiten, scheinen gebannt (ausgenommen davon sind viele Viruserkrankungen). Die Infektionsabteilungen der Krankenhäuser sind im Wesentlichen anderen Zwecken zugeführt worden. Die Sterblichkeit an Tuberkulose ist (zumindest im Westen, Anm. d. Verf.) auf ein Minimum gesunken. Dazu ist aber anzumerken, dass die Ursachen der Sterblichkeitsreduktion auch in der verbesserten Hygiene, Lebensmittelherstellung und Konservierung, Wasser- und Abwasserwirtschaft sowie den Schutzimpfungen zu sehen sind. Besonders die Innere Medizin hat seit Ende des Zweiten Weltkrieges in vorher ungeahntem Ausmaß ihre therapeutischen Möglichkeiten entwickelt und vergrößert. Sie wird daher zu Recht als die Mutter der Medizin bezeichnet. Zusammenfassend kann somit durchaus von epochalen Erfolgen der modernen Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg gesprochen werden. Sie hat unsere Lebensspanne verdoppelt (siehe Abbildung 1). Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch die Infektionskrankheiten eine führende Rolle in der Sterbestatistik spielten, traten in den vergangenen 60 Jahren die Herz-, Kreislauf- und Gefäßerkrankungen mit ihren Folgen in den Vordergrund. Im Jahre 1974 lag der Anteil der Toten, die an den Folgen dieser Krankheiten (zum Beispiel Herzinfarkt, Bluthochdruck, Schlaganfall) verstarben, bei 46 Prozent. 20 Prozent der Todesfälle beruhten auf einer onkologischen Diagnose. Die restlichen 34 Prozent der Sterbefälle verteilten sich auf andere Todesursachen [3, 5, 6, 15, 18, 23–25, 27, 28].

 

Unter idealen Bedingungen verfügt der Mensch über eine begrenzte mittlere Lebenserwartung. Mit zunehmendem Alter kommt es zu einer schlechteren Adaptation an Umwelteinflüsse und Belastungen des täglichen Lebens. Sowohl die zelluläre als auch die humorale Immunität gehen langsam, aber kontinuierlich, zurück. Die Anfälligkeit für Infektionen erhöht sich. Außerdem können sich Autoantikörper bilden, was zu Autoaggressionskrankheiten führen kann. Zusätzlich vermindern sich die hämatopoetischen Stammzellen und die Nukleinsäure-Repair-Mechanismen schwächen sich ab [24].

Ansichten und Gefahren zu den Fortschritten in der Medizin – Aufklärung in der Bevölkerung

Die Entwicklung in der Medizin geht mit Riesenschritten voran. Das Wissen ist dabei so umfangreich geworden, dass ein einzelner Mensch das alles, was hier schlicht „die moderne Medizin“ genannt wird, gar nicht mehr überschauen kann. Freilich ist die moderne Medizin der meisten Infektionskrankheiten Herr geworden, aber es besteht keine allzu große Hoffnung, dass wir nun bald eine gesunde und glückliche Menschheit werden. Im Gegenteil, es gibt heute mehr kranke Menschen als vor 30 Jahren, nicht trotz, sondern wegen der großen Leistungen der Medizin, schlussfolgert der Mediziner mit dem Pseudonym Friedrich Deich (1907–1978; Dr. Friedrich Weeren) im Jahre 1975. Der Mediziner und Jurist Christoph Wolff (1906–1973), Ressortleiter für Wissenschaft und Forschung bei der Tageszeitung „Die Welt“, resümierte: „Die Medizin von heute hat, wo man auch hinsehen mag, ihre zwei Gesichter: bei den Wirkungen und Nebenwirkungen der Therapie ebenso wie im Widerstreit zwischen ärztlicher und bürokratischer Funktion oder im Konflikt zwischen medizinischer Forschung und Praxis. Aber gerade aus der Tatsache, dass man diese Doppelgesichtigkeit nicht wahrhaben will, haben sich mancherlei Schwierigkeiten ergeben.“ Der Chefredakteur, der internationalen Wochenzeitung „Medical Tribune“ für Deutschland und die Schweiz, Dr. med. Paul Kühne (1914–1969), meldete sich ebenfalls zur neuen Notfall- und Intensivmedizin zu Wort: „Die moderne Medizin hat Methoden der Wiederbelebung von solcher Wirksamkeit entwickelt, dass es heute gelingt, einen Menschen von seinem echten Tode ins Leben zurückzurufen. Das heißt, ein Mensch, der vor einigen Jahren mit einem Stillstand des Herzens und eingestellter Atmung von jedem Arzt für endgültig verstorben erklärt worden wäre, kann in einer großen Zahl von Fällen heute durch sofort einsetzende Rettungsmaßnahmen von diesem Todesfall geheilt werden. Man hat sich entschlossen, all jene entscheidenden Rettungsverfahren mit dem Begriff ‚Reanimationsmethoden‘ zu bezeichnen. … Jedenfalls ist es heute so, dass der moderne Arzt in der Klinik in der Lage ist, lebenswichtige Funktionssysteme des Körpers vorübergehend durch künstliche Maßnahmen zu ersetzen.“ Der freie Journalist Richard Kaufmann, ständiger Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung in München und wissenschaftlicher Redakteur der deutschen Wochenzeitung „Christ und Welt“: „Man stirbt nicht wirklich, man wird immer noch einmal aufgefangen im Netz der medizinischen Fortschritte. Die Medizin wird, so hofft der Kranke, in immer kürzeren Intervallen – nach der ersten, zweiten, dritten Pneumonie, dem Oberschenkelhalsbruch, der Radikaloperation – auch das nächste Mal wie der Magier einen noch unbekannten Trick produzieren, mit dem der Tod besiegt wird. Haben wir ein Recht, den Tod zu programmieren? Was darunter wirklich zu verstehen wäre: die arbitrarische (Willkürlichkeit; Anm. d. Verf.) Entscheidung gesunder Menschen, die sich selbst und ihre Gesundheit als normal verstehen, über das Leben von nicht normalen Mitmenschen.“ Solche Entscheidungen müssten in Grenzfällen getroffen werden. Sie würden sogar viel öfter getroffen, als die Öffentlichkeit wisse. Doch sie würden sich nicht in einem gesetzlich erfassbaren Raum ereignen, sondern außerhalb von ihm, in einer Art Niemandsland. Sie würden geduldet (so wie man ja den Tod dulden müsse). Der Entschluss falle unauffällig, er dürfe es, weil die anderen nicht hinsehen. Der Naturwissenschaftler Dr. rer. nat. Theo Löbsack (1923–2001), freier Journalist und ständiger Mitarbeiter der „Zeit“ und anderer Tages-, Wochen- und Fachzeitungen, bei Rundfunk und Fernsehen, zitierte aus dem Vorwort eines medizinischen Fachbuches mit dem Titel „Iatrogene Krankheiten“ (Das Buch wurde in deutscher Sprache übersetzt, Anm. d. Verf.) von dem amerikanischen Arzt David M. Spain, M. D., Brooklyn, N. Y., USA, eine fiktive Kasuistik: „Ein 37-jähriger Patient, der sich erkältet hatte, erhielt von seinem Arzt sicherheitshalber eine Penicillinspritze. Nun wollte es aber das Unglück, dass der Mann das Medikament nicht vertrug. Er war – wie so mancher von uns – gegen Penicillin allergisch und reagierte mit Hautausschlag, Gelenkschwellungen, Nervenentzündung. Man musste ihn mit einem Gegenmittel behandeln, in diesem Fall mit einem Hormon der Nebennierenrinde, dem Cortison. Doch auch die Cortisontherapie blieb nicht ohne Folgen – ein Magengeschwür entstand. Das Geschwür wiederum gab Anlass zu einer ausgedehnten Magenblutung, und schließlich musste sogar ein Teil des Magens entfernt werden. Noch immer wollte die Verkettung unglücklicher Umstände nicht abreißen; als im Anschluss an die Magenresektion einige Blutübertragungen durchgeführt werden mussten, gelangten mit dem Spenderblut auch die Erreger einer ansteckenden Leberkrankheit in den Körper des Patienten. Bald darauf litt er an den Symptomen des sogenannten Dumping-Syndroms: Schwere Kreislaufstörungen plagten ihn. Doch das Schlimmste stand noch bevor. In den Jahren nach der Blutübertragung hatte sich eine Leberzirrhose entwickelt, die kurzfristig die Zufuhr großer Eiweißmengen erforderlich machte. Und bei dieser Therapie nun geriet unser Patient in ein Leberkoma, einen Zustand tiefer Bewusstlosigkeit, in dem er verstarb – fünf Jahre nach der im Grunde überflüssigen, rein prophylaktischen Penicillinspritze.“* [20]

Der Arzt Werner Pfeifer, ebenfalls ein Journalist, Redakteur von „refero-med“, Mitglied der Chefredaktion „diabetes-journal“, Pressereferent der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, ständiger Mitarbeiter bei Fachzeitschriften, Tages- und Wochenzeitungen, monierte seinerzeit, über die Toleranz der Bevölkerung für präventivmedizinische Aktivitäten: „Anfangs machen die Patienten vielleicht noch mit, aber dann nicht mehr. Deshalb auch nimmt das Interesse an kostenlosen Vorsorgemaßnahmen nur so langsam und zögernd zu, beispielsweise an der Polio-Schutzimpfung oder an den offiziell empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen. Es ist für den Laien eine psychische und psychosoziale Belastung, immer wieder mit der Möglichkeit einer schweren, lebensbedrohenden Krankheit konfrontiert zu werden.“ Er ignoriere statt dessen lieber die Bedenken, dass eine schwere Krankheit in ihm unerkannt keimen könnte. Darüber hinaus werde die präventivmedizinische Toleranz der Menschen noch durch Alarmgeschrei einzelner Wissenschaftler strapaziert. Solange die Medizin nicht mehr Disziplin in ihre präventiven Forderungen lege, komme sie damit beim psychisch normalen Bürger nicht an. Er betont, dass sich der Bürger das Leben nicht durch tausend Ängste permanent vergällen lasse. Wenn er in dieser Hinsicht Sorgen habe, brauche er zuerst einmal einen verständnisvollen Arzt, der sich in seine Lage hineinversetzen könne, und erst in zweiter Linie auch einen Diagnose-Apparat [21, 27].

Prof. Dr. med. Ludwig Zukschwerdt (1902–1974), Direktor der Allgemeinchirurgischen Klinik am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf, kritisierte die Medien: „So sehr wir die Hilfe der seriösen Presse begrüßen, so heftig müssen wir reißerische Mitteilungen mit Erweckung falscher Hoffnungen und effekthaschende Film- und Fernsehdarstellungen von Operationen ablehnen. Keiner von uns sollte hierzu seine Hand reichen.“ Vom Chirurgen werde durch solche Darstellungen oft ein trügerisches Bild geprägt, das in der täglichen Praxis zwangsläufig zu Enttäuschungen führen müsse. Bedenklich sei für ihn zudem eine überhitzte Entwicklung einzelner Operationsverfahren unter dem Druck von Presseveröffentlichungen. Manches, was vor Kurzem mit größter Reklame gefeiert worden sei, sei bereits wieder verschwunden. Auf Drängen der von der Presse halb aufgeklärten Patienten könnten noch nicht bewährte Eingriffe oft eine überschnelle Verbreitung erfahren. Manches Opfer hätte seiner Meinung nach zum Beispiel erspart werden können, wenn die Reklame für Bandscheibenoperationen nicht zu einer viel zu breiten Ausübung geführt hätte. Besser wäre es aus seiner Sicht gewesen, wenn an wenigen Stellen in der Stille eine sorgfältige Indikationsstellung ausgearbeitet worden wäre. Gerade der kritische Krankenhauschirurg gerate aber in eine Vertrauenskrise zu seinen Patienten, wenn er nicht bereit sei, derartige Eingriffe auszuführen [37].

* Auch „Der Spiegel“, Ausgabe Nummer 39, 1967, berichtete über das Fachbuch mit der Headline „Fibel der Fehler“: „Dieselben Ärzte, wundert sich Spain, »verschreiben täglich Medikamente, deren therapeutischer Wert nahezu unbewiesen ist.«“

Fortsetzung und Literaturverzeichnis folgen.

 

„Jede in einem lebenden Organismus durch ein Medikament ausgelöste Wirkung wird zudem sofort eine Vielzahl von Reaktionen und Re-Reaktionen auslösen, sodass sich schließlich ein undurchschaubares Konglomerat von Symptomen ergibt, das neben den eigentlichen Krankheitszeichen verschiedene Pharmaeffekte mit ihren Reaktionsmustern aufweist. Der gelegentlich von der pharmazeutischen Industrie verheißene Traum vom nebenwirkungsfreien Arzneimittel ist eine unerreichbare Illusion“, postulierte Prof. Dr. med. Herbert Begemann (1917–1994), ein deutscher Hämatologe und Onkologe [25]. Hierzu ist anzumerken: Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) verursachen jährlich immense Gesundheitskosten und sind in Deutschland gegenwärtig für circa 25.000 Todesfälle und circa 500.000 schwere, arzneimittelbedingte Zwischenfälle verantwortlich. 50 Prozent der unerwünschten Arzneimittelwirkungen sind potenziell vermeidbar und auf nicht angepasste oder fehlerhafte Dosierung zurückzuführen [28]. 5–10 Prozent aller Krankenhauseinweisungen gehen zulasten unerwünschter Arzneimittelwirkungen. Darüber hinaus schätzt man, dass 18–30 Prozent der stationären Patienten in Kliniken an unerwünschten Arzneimittelwirkungen zu leiden haben und 14 Prozent der Krankenhausverweildauer auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückzuführen sind. UAW sind schwierig zu erkennen. Die häufigsten Symptome und Anzeichen einer Arzneimittelnebenwirkung waren Juckreiz, Übelkeit und/oder Erbrechen, Hautausschlag und Verwirrtheit/Lethargie. Die am häufigsten beteiligten Medikamentenklassen waren Analgetika, Antiinfektiva und Herz-Kreislauf-Mittel [30].

 

Entnommen aus MT im Dialog 8/2023

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