Historische Pandemien mit Auswirkungen auf die heutige Gesellschaft (Teil 3)
Diese Schilderung verdeutlicht die fanatisch geprägte christliche Haltung eindrucksvoll noch zu Mitte des 20. Jahrhunderts: „Nun möchte ich noch einmal auf die Fleckfieberbekämpfung im Kreise Demmin zurückblenden. Ich hatte über den Glücksfall berichtet, dass sich dort für die Pflege in der neu eingerichteten Quarantänestation eine Oberin mit vier jungen Nonnen eines katholischen Ordens zur Verfügung gestellt hatten. Ich hatte von ihrem beispiellosen Arbeitseinsatz erzählt, aber auch von ihrer Weigerung, ihre seuchenhygienisch unmögliche Ordenstracht gegen eine klinisch-praktische Kleidung zu tauschen. Dort hatte ich schon auf ihre Gottergebenheit hingewiesen. Nun lagen zwei der jungen Nonnen mit hohem Fieber im Obergeschoß des Gartenlokals nebeneinander in einem Doppelbett. Ich werde das Bild nie vergessen: die beiden jungen Mädchen mit hochroten, fiebernden, aber lächelnden Gesichtern, die Schädel kahlgeschoren, nur mit einem kleinen, weißen Käppi bedeckt, die Hände artig für meine Visite auf der Bettdecke gefaltet. Da die Oberin mir aus ,Anstand‘ untersagte, ihre Schützlinge zu untersuchen, blieb mir nichts anderes übrig, als meinen klinischen Besuch auf die Blutentnahme für die serologische Diagnostik und auf das Pulsfühlen zu beschränken. Als ich dann die Hoffnung aussprach, dass sie möglichst schnell wieder gesund werden sollten, da vertiefte sich nur ihr Lächeln. Und sie bekundeten mir, dass sie sehr stolz seien, im Einsatz erkrankt zu sein, und dass sie nichts sehnlicher wünschten, als so bald wie möglich bei Jesus Christus zu sein, dem sie ja anverlobt seien. Und so geschah es! Wenige Tage nach Ausbruch der Erkrankung starben beide Nonnen fast gleichzeitig in einem Alter und zu einem Zeitpunkt der Erkrankung, in dem man an Fleckfieber nicht zu sterben pflegt. Solch ein, wenn auch nicht gesuchter, so doch kampflos hingenommener Tod mag für manchen faszinierend sein, mich ergriff damals eine große Wut gegen diese Form der ‚Jenseiterei‘. Ich hatte in schwerer Seuchenlage nicht nur zwei wichtige Helferinnen verloren, sondern es waren auch zwei junge Menschen von hier weggenommen, die in ihrem Leben noch viel Gutes hätten bewirken können. Ich war und bin auch heute noch der Ansicht, dass der Mensch in dieses Leben gestellt ist, um seine Aufgaben und Pflichten zu erfüllen und nicht aus welchen Gründen auch immer in ein noch so schönes Jenseits zu flüchten“ [17].
Gegenwärtig hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen. Zu der technisch zivilisatorischen Eroberung und Beherrschung von Natur und Gesellschaft, die sich vor allem in Europa und Nordamerika unter der Führung der „bürgerlichen Schichten“ vollzieht, gehört die Abschaffung des Todesproblems in der Öffentlichkeit als auszeichnendes Merkmal des Zeitgeistes hinzu: Der Tod ist für den heutigen Menschen angsteinflößend und unfassbar, und er ist außerdem in der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft nicht eingeplant. Der Mensch stirbt nicht mehr umgeben von Familie und Freunden, sondern einsam und der Öffentlichkeit entzogen, um den „eigenen Tod betrogen“, so prägnant formulierte der französische Historiker Philippe Ariés [32] dieses neue Faktum (Abbildung 5).
Bemerkung zu Abbildung 5: In unserem heutigen Gesundheitssystem hat jeder Patient ein Recht auf adäquate medizinische Behandlung. Wir haben erstmals das „Recht auf Gesundheit“ proklamiert. Besonders der „alte Mensch“ darf davon nicht ausgeschlossen werden, und die Entscheidung kann nur heißen: „In dubio pro vita“ (Im Zweifel für das Leben). Hier stellt sich die dringende Frage: Mit allen uns bekannten, negativen Erscheinungen in der „High-tech-Medizin“? Je künstlicher und komplizierter die Verhältnisse, Apparate und Medikamente, umso eher droht intensivmedizinische Multimorbidität, das heißt, wenn sich zum psychischen, polytechnischen und mikrobiellen Hospitalismus (Krankenhausinfektion) auch noch der multimedikamentöse hinzugesellt, ein Kranksein, bedingt durch die Arzneimittel [26], die Krux der modernen Krankenhausmedizin; das Leiden an der Krankheit. Die Kehrseite ihrer paradoxen Wirksamkeit ist, die sie behandelt, zeichnet und schädigt. Das Überleben bedeutet die Abhängigkeit des Kranken zwischen Körpermaschinen, Körper und künstlichem Leben [34]!
Der österreichische Lyriker Rainer Maria Rilke ist in den Aufzeichnungen des „Malte Laurids Brigge“ im Jahr 1912 von der Neuartigkeit dieser Sterbesituation so erschrocken, dass sich seine Schilderung heute wie ein ins Poetische abgeglittener Tatsachenbericht liest, der die üblichen zivilisationskritischen Klischees seiner Zeit benutzt (Massenproduktion – Proletarisierung – Anonymität – Technisierung): „Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben“ (Zitat in [29]). Die meisten Menschen sterben gegenwärtig in Deutschland in Institutionen, wobei das Krankenhaus mit über 50 Prozent den häufigsten Sterbeort darstellt. In höheren Altersstufen verlagert sich das institutionalisierte Sterben dann vom Krankenhaus hin ins Pflegeheim, sodass der Anteil der Verstorbenen im Krankenhaus auf 41 Prozent (85-Jährige und Ältere) abnimmt. Dies könnte unter anderem ein Hinweis darauf sein, dass Patienten austherapiert sind, weitere Behandlungen kontraindiziert sind oder sogar gegebenenfalls eine verdeckte Altersrationierung vorliegen könnte [35]. Leider sterben Menschen auch noch im 21. Jahrhundert, das glorifiziert, anthropologisch sei, einsam in unseren Krankenhäusern in (oft) fehlenden Sterbezimmern. Für die Agonie genügt das Badezimmer oder eine provisorisch abgeteilte Ecke im Flur. Es findet in der modernen Institution „Gesundheitswesen“ eine Entpersönlichung und somit eine Entfernung von der Individualität statt; ein sozialer Tod, der überwiegend negativ als ein Synonym für Vereinsamung, Isolation und Hilflosigkeit im Umgang mit Sterbenden wahrgenommen wird.
Wenn es zum Sterben kommt, ist der Auftrag der Ärzte und Pflegekräfte beziehungsweise aller Gesundheitsberufe die Wiederherstellung der Gesundheit – die „restauratio sanitatis“ – kläglich gescheitert. Der Tod gilt heute in unserem Gesundheitssystem nur noch als Topos, als Unglücksfall, als Kunstfehler der mediko-technischen Anstrengungen, die zu seiner Abwendung unternommen werden. Tod und Sterben haben sich entsymbolisiert. In der Bindung an die Elementarstrukturen des Menschen, der „Conditio humana“, die Bedingung des Menschseins, gewinnen die geschichtlichen Erscheinungsformen von Individuum und Gesellschaft ihre Kulturbedeutung (Abbildung 5). Ein öffentlich geführter Diskurs, die Thanatologie, die Lehre vom Sterben betreffend, würde das tabuisierte Schreckgespenst „Tod“ in Verbindung mit Leiden, als Naturgeschehen der Schöpfung, auch in unserer Welt verständlicher dann dulden. Für Deutschland kann festgehalten werden, dass sich zwischen 66 und 92 Prozent der Befragten wünschen, im gewohnten häuslichen Umfeld zu sterben [35].
Abb. 6: Ivo Saliger: Chirurg und Tod im Kampf um eine Frau, um 1921 Radierung in Farbe 73,5 x 53,7 cm, Grafiksammlung _Mensch und Tod_ Inv. Nr. E 0552, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Besonders die Erfolge der Notfall- und Intensivmedizin und viele andere mehr haben einen hohen gesellschaftlichen Status vermittelt. Die Lebenserhaltung und Lebensverlängerung – um jeden Preis – haben sich als Maxime der Medizin etabliert. Die Todesvermeidung ist zum Anliegen ersten Ranges aufgestiegen; der Machbarkeit der mediko-technischen Interventionen scheinen keine Grenzen mehr gesetzt zu sein.
Ist aber trotzdem der Tod eingetreten, wird er als Versagen der ärztlichen Kunst angesehen. Die heutige Medizin ist daher gezwungen, eine defensive Medizin – mit all ihren Folgen (Abb. 5) – zu betreiben, die die künstliche Lebenserhaltung um jeden Preis verlangt. Heute wird daher hauptsächlich in den Krankenhäusern gestorben, angeschlossen an lebenserhaltende oder schmerzlindernde Apparaturen, zumeist in einer recht distanzierten, anonymen Atmosphäre. Die letzten Begleiter des Sterbenden sind vornehmlich die Ärzte und das Krankenhauspersonal. In diesem Kontext wird daher auch vom „weißen Tod“ gesprochen [37]. Wir können es jedoch drehen und wenden, wie wir wollen: trotz allem sterben die meisten Menschen heute – auch dort – unter „würdigeren“ Bedingungen als die Mehrzahl unserer Vorfahren. In was für „Sterbezimmern“ starben unsere Ahnen denn? In eisig kalten vier Wänden beziehungsweise völlig überhitzten Stuben winters ohne sauberes Wasser im Haus. Noch heute aber sterben Hunderttausende Menschen auf der Welt – vorwiegend in den Entwicklungsländern – in dieser Weise. Wer aber möchte mit unseren Vorfahren tauschen? [38] Die moderne Medizin muss aber, wenn sie überhaupt effizient sein will, weitgehend mitmenschliches Gefühl durch rationales Verhalten ersetzen, daher ist es in dem Kontext ungerecht, den Krankenhausärzten und dem Pflegepersonal jegliches Mitgefühl abzusprechen [37].
Zusammenfassung
Von den zahlreichen Natur- wie Sozialkatastrophen in den vergangenen Jahrhunderten konnten im Wesentlichen die kontagiösen Infektionskrankheiten in den letzten acht Dekaden des 20. Jahrhunderts erfreulicherweise deutlich zurückgedrängt werden. Der einprägsame Spruch: „Die Seuche tötete einen nach dem anderen, bis das ganze Haus leer war und verlassen dastand“; das waren noch die besonderen Katastrophen der Ahnen, die Jahrhunderte durchzog; so liest man in den alten Kirchenbüchern ihr doloröses Zeitgeschehen.
Die deutlich gestiegene Lebenserwartung der heutigen Erdenbewohner – vorwiegend in der westlichen Welt – beruht auf den Erkenntnissen in den Naturwissenschaften in den letzten zwei Jahrhunderten im Wesentlichen auf:
- optimierte und gezielte Hygienemaßnahmen
- ausreichende und gesunde Ernährung
- stetige Fortschritte in Wissenschaft und Medizin
- Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse
- guter Bildungsstand in der Bevölkerung und damit ein verbessertes allgemeines Gesundheitsbewusstsein
Dies alles fußt aber nicht nur auf verbesserten Lebensbedingungen, sondern auch auf dem Mut unserer Ahnen und ihrer Bereitschaft zum Wagnis. Sie sind das damals nicht geringe Risiko von Impfungen eingegangen und haben dadurch ganz wesentlich die kontagiösen Infektionskrankheiten reduziert – teilweise sogar besiegt; Pocken überdies weltweit ausgerottet. Dabei hat es in der Tat Zwischenfälle und auch Opfer gegeben, aber ohne Inkaufnahme von Risiko wäre die Zahl der Leidtragenden bedeutend höher gewesen [27, 28]. Schon unsere Ahnen hatten Furcht und zögerten vor der Impfung gegen die Pocken: Sich impfen zu lassen repräsentiert, sich der Krankheit freiwillig auszusetzen. Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus, war ein Schweizer Arzt, Naturphilosoph, Alchemist, Laientheologe und Sozialethiker und ist seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einer der berühmtesten europäischen Ärzte gewesen. Er sagte: „Der Mensch war immer ein Mängelwesen ,natura pathologica‘: zum Umfallen geboren, koexistent mit dem Nachbarn Tod.“ Die schweren kontagiösen Infektionskrankheiten haben den Menschen zu allen Zeiten unvermittelt und unvorbereitet überfallen; sie waren von sozialpolitischen Auswirkungen begleitet, auf die sich die Menschen nur mühsam einzustellen wussten. Sie wurden gedeutet als Prüfung oder als Strafe, immer aber als ein außergewöhnliches Zeichen, als ein Signal, das einer Wegweisung dienen sollte.
Die Gefahr von ansteckenden Infektionskrankheiten verbleibt auch weiterhin für Mensch und Tier auf der Erde das größte Gesundheitsproblem. Not und Hilfe, Leiden und Mitleiden stehen dabei in einem geschlossenen Sinnzusammenhang, und sie sind eine „Einheit auf Leben und Tod“, dem sich die Weltbevölkerung auch weiterhin zu stellen hat. Die Klientel von heute ist in hohem Prozentsatz nicht nur manifest kränker, sondern auch subjektiv leidender – chronische Erkrankungen, die eine neue Form des Lebens gegenüber unseren Ahnen darstellt – geworden; trotz der enormen Weiterentwicklung in allen medizinischen Bereichen. Der Krebs, der Prototyp der modernen Krankheit des heutigen Menschen, prägt das pathologische Übel. Er schlägt ohne Ansehen von Alter, Geschlecht oder Gesellschaftsklasse zu; ähnlich wie bei unseren Ahnen, die von unterschiedlich akuten kontagiösen Infektionen dezimiert wurden.
In der sehr lesenswerten Monografie der französischen Soziologinnen Claudine Herzlich und Janine Pierret aus dem Jahre 1991 „Kranke gestern, Kranke heute – Die Gesellschaft und das Leiden“ schreiben sie [34]: „Die chronische Krankheit ist fast für jeden von uns eine sichere Zukunftsaussicht. Der Kranke ist eine eigenständige kulturelle Persönlichkeit und einer der gesellschaftlichen Akteure unserer Zeit geworden. Die Ohnmacht und der fast unausweichliche Tod sind charakteristisch für die absolute Herrschaft der Krankheit unserer Ahnen. Im Unterschied zu heute, wo eine chronische Erkrankung eine bestimmte Form des Lebens darstellt, kann man die Epidemie nur als eine Form des Todes begreifen.“ Die Medizin – als Anthropologie, der Zentralwissenschaft vom Menschen – mit ihren zahlreichen Berufen im Gesundheitssektor hat dabei stets die bedeutenden Eigenschaften, Gesundheit zu erhalten und Krankheiten zu heilen, Berater in Gesundheit, Lehrer über das, was zur Erhaltung und Bewahrung des Lebens zählt und der Fürsorger für die Kinder und Sterbende inne; im Sinne von Rudolf Virchow, als der Hohepriester der Natur in der humanen Gesellschaft.
Die Literatur finden Sie online.
In memoriam meiner Mutter Marlis Luise Panknin, geborene Kaatze (3. Juli 1944–18. Juli 2021)
Kontakt:
E-Mail: ht.panknin@berlin.de
Entnommen aus MTA Dialog 10/2021
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