Wie sollte medizinisches Personal mit Gewalt umgehen?

Interview mit Dr. Martin Eichhorn
Kli/SH
Dr. Martin Eichhorn
Dr. Martin Eichhorn ist zertifizierte Fachkraft für Kriminalprävention und zertifizierter Trainer. privat
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Die Meldungen zu Übergriffen oder auch verbaler Gewalt in Krankenhäusern oder Arztpraxen häufen sich. Doch wie sollten sich die betroffenen Mitarbeiter verhalten, um die Situation in den Griff zu bekommen?

Dr. Martin Eichhorn gibt im Interview Antworten auf diese Frage. Zugleich gibt er Tipps zum Umgang mit diesen heiklen Situationen. Er ist zertifizierte Fachkraft für Kriminalprävention und zertifizierter Trainer (TU Berlin). Er bietet im gesamten deutschsprachigen Raum Inhouse-Seminare zu Themen wie „Sicheres Handeln in eskalierenden Konflikten“, „Deeskalation“ oder „Umgang mit Grenzüberschreitungen und Beleidigungen“ an. Unter anderem hat er auch für die Ärztekammer Niedersachsen eine Broschüre verfasst, die viele hilfreiche Tipps zum Thema Gewaltprävention aufgreift: Broschüre „Übergriffe gegen Praxisteams - Vorbeugen und abwenden“ (pdf-Datei, 785 KB).


Die Gewalt gegen medizinisches Personal nimmt seit ein paar Jahren immer mehr zu. Wieso ist das so?

Dr. Martin Eichhorn: In dem Bereich ist es ganz schwer zu spekulieren. Man kann aber insgesamt einen Blick auf die Gesellschaft werfen und feststellen, dass fast alle Berufsgruppen aus Dienstleistungsbereichen, die mit Menschen zu tun haben, damit zu kämpfen haben. Ich mache ja Seminare für ganz verschiedene Berufsgruppen – und das geht wirklich von der Hebamme bis zum Krematorium. Und zu meinen Kundengruppen zählt auch alles, was dazwischen ist: also auch Mitarbeiter von Jobcentern, Sozialämtern, Schwimmbädern, Gerichten – und eben auch Kliniken, Arzt- und Zahnarztpraxen. Die Zunahme der Gewalt lässt sich nicht nur auf die medizinischen Berufsgruppen beschränken.

Das heißt also, dass wir aktuell in der Gesellschaft insgesamt immer mehr Gewalt erleben?

Dr. Martin Eichhorn: Das ist eine ganz interessante Frage. Man sollte sich immer zurückhalten, was die eigene Wahrnehmung betrifft, wenn es um Kriminalität geht. Die Wissenschaft ist sich da nicht ganz einig. Es könnte zum Beispiel auch eine Rolle spielen, dass wir insgesamt in einer relativ gewaltarmen Gesellschaft leben, und deshalb Dinge als Gewalt empfinden, die vor 10, 20, 30 oder 40 Jahren noch nicht als Gewalt empfunden worden wären. Es könnte also sein, dass wir da sensibler geworden sind und dadurch bestimmte Taten eher zur Anzeige bringen. Das geht beispielsweise mit Beleidigungen los: So etwas gab es bei bestimmten Berufsgruppen schon immer. Aber mittlerweile weiß man, dass man durch Beleidigungen auch psychisch Schaden nehmen kann. Da ist unsere Sensibilität gewachsen und viele Fälle werden eher angezeigt. Das ist beispielsweise bei Ärztinnen und Ärzten in Notaufnahmen der Fall. Das ist natürlich ein völlig richtiger Schritt, denn man muss da rechtzeitig Stopp-Signale aufstellen. Da haben sich viele früher oft einfach mehr gefallen lassen.

"Gewalt ist nach wie vor ein ziemlich männliches Thema"

Gibt es denn Unterschiede bei verschiedenen medizinischen Berufsgruppen?

Dr. Martin Eichhorn: Was das Praxispersonal betrifft, sind die, soweit ich das einschätzen kann, durch die Bank alle betroffen. Die Fachangestellten sind oft erstmal der Puffer, bei dem sich der erste Frust ablädt. Aber das schwappt dann oft auch auf andere über. Wenn wir die verschiedenen Disziplinen ins Visier nehmen, kann man sagen, dass beispielsweise Gynäkologen relativ selten von Gewalt betroffen sind. Das liegt daran, dass Gewalt nach wie vor ein ziemlich männliches Thema ist. Es gibt natürlich auch weibliche Täterinnen, es gibt auch verbal übergriffige Frauen, aber meist geht die Gewalt von Männern aus. Da fallen die Gynäkologen also weitestgehend raus – es sei denn, sie bekommen Ärger mit dem Partner einer Patientin. Der zweite Punkt: Gewalt ist ein Thema, das oft mit dem Alter des Täters zu tun hat. Die meisten Gewalttäter sind jünger als 25 Jahre. Danach werden die meisten Männer etwas ruhiger. Dementsprechend sind medizinische Disziplinen, die es eher mit älteren Patienten zu tun haben, auch seltener von Gewalt betroffen. Stark betroffen sind natürlich Notaufnahmen, wo es viele Menschen in Ausnahmesituationen gibt. Das trifft auch auf Notärzte und Sanitäter zu, die auf Rettungswagen fahren.

In welchen Situationen wird medizinisches Personal beispielsweise angegriffen?

Dr. Martin Eichhorn: Ein Faktor ist natürlich immer, wenn Menschen alkoholisiert in die Praxis kommen. Ein weiterer Faktor ist die Sorge um Angehörige – da spielen unter Umständen auch interkulturelle Konflikte eine Rolle. In größeren Praxen oder in Notaufnahmen gibt es das häufiger. Dann gibt es das Problem, dass Patienten häufig bestimmte Abläufe nicht nachvollziehen können. Da würde es helfen, die Menschen besser zu informieren, was als nächstes passiert und mit welchen Wartezeiten sie ungefähr rechnen müssen. Da entsteht Aggression oft aus der Unsicherheit. Selten sind Fehlbehandlungen die Ursache für Gewalt – egal, ob es um tatsächliche oder nur vermutete Fehlbehandlungen geht.

Welche strukturellen Gründe gibt es für die Gewalt? Spielt da auch der Personalmangel eine Rolle?

Dr. Martin Eichhorn: Aggression entsteht oft, wenn Personalmangel zu längeren Wartezeiten führt. Und wenn medizinisches Personal wegen des Personalmangels über Gebühr länger arbeiten muss, ist es auch gestresster und kann nach einer langen Schicht vielleicht nicht mehr so viel zur Deeskalation eines Konflikts beitragen, das spielt sicher eine Rolle. Denn man darf nicht vergessen: Wenn es Konflikte gibt, sind meist zwei Parteien beteiligt. Manchmal liegt es auch am medizinischen Personal. Gerade bei Stress und langen Arbeitszeiten kommt es auch mal vor, dass das medizinische Personal die Patienten nicht so gut behandelt, wie es wünschenswert wäre. Vielleicht ist es unhöflich, ohne es selbst zu merken, oder benutzt die Patienten als Blitzableiter. Das ist alles denkbar. Trotzdem würde ich sagen, der größte Teil der Konflikte geht von den Patienten aus.

"Schon im Vorfeld Formulierungen parat legen"

Wie reagieren Opfer von verbaler Gewalt, also von Beleidigungen oder Drohungen, im ersten Moment normalerweise?

Dr. Martin Eichhorn: Verbale Übergriffe sind natürlich wesentlich häufiger als körperliche Gewalt – denken Sie allein an den Straßenverkehr. Wenn jemand verbal beleidigt wird und es nicht gewöhnt ist – das ist immer auch eine Frage der Herkunft und des Milieus – dann sind die meisten Menschen erstmal verschreckt, überfordert und verstummen unter Umständen. Sie wissen gar nicht, wie ihnen in dem Moment geschieht. Ich habe beispielsweise mal gehört, wie ein Patient eine Fachangestellte „Thekenschlampe“ genannt hat. In so einem Fall ist man natürlich erstmal geschockt und weiß nicht, wie man reagieren soll. Schlagfertigkeit ist in so einem Moment den wenigsten Menschen gegeben. Aber es erfordert Schlagfertigkeit, um mit solchen Leuten klarzukommen.

Wie kann man sich auf so eine Situation vorbereiten, und welche Reaktionen empfehlen Sie?

Dr. Martin Eichhorn: Mein Rat ist, sich im Vorfeld schon Formulierungen parat zu legen. Wenn man in einer Praxis in einem sozialen Brennpunkt arbeitet, kommt man regelmäßig in solche Situationen und ist da auch schon etwas versierter. Aber auch, wer nur selten beleidigt wurde, sollte das gedanklich mal durchspielen und eine Formulierung auf dem Kasten haben, die man ohne großes Nachdenken einfach abrufen kann, wenn man beleidigt wird. Die Formulierung sollte einem gefallen und zu einem passen. Es reicht im Grunde schon eine ganz minimalistische Reaktion – äußerlich gelassen zu bleiben und einfach mit „so, so“ oder „ach was“ zu antworten. Man kann auch sagen: „Ich helfe Ihnen gern, aber nicht in diesem Ton“ und dem anderen so eine Grenze aufzeigen. Oder wenn man etwas schlagfertiger wirken möchte, kann man auch fragen: „Oh, können wir diesen Teil überspringen?“ oder „Gibt es Sie auch in nett?“. Solche Dinge können schon helfen. Sie können mit dem richtigen Spruch im richtigen Moment Leute mundtot machen. Und wenn Sie beleidigt werden geht es genau darum: zu zeigen, dass Sie nicht als Opfer bereitstehen.

Wie sieht es bei körperlichen Angriffen aus: Wie reagiert man da spontan?

In unserer Gesellschaft sind gewaltsame Übergriffe zum Glück relativ selten. Das ist großartig – es bedeutet aber auch, dass Menschen in unserer Kultur wenig Erfahrung im Umgang mit tatsächlicher Gewalt haben. Auch wenn es natürlich Dinge wie häusliche Gewalt oder Gewalt gegen Kinder gibt – in Deutschland wird man relativ selten Gewaltopfer und kann sich in der Öffentlichkeit relativ frei bewegen, ohne davor Angst haben zu müssen. Das heißt auch hier: Die meisten Menschen sind komplett überfordert, wenn sie mit Gewalt konfrontiert werden. Naturgemäß ist es so, dass wir Menschen seit Jahrmillionen mit drei verschiedenen Reaktionsformen auf Gewalt reagieren. Erstens: Wenn wir wegrennen können, rennen wir weg. Zweitens: Wenn wir nicht wegrennen können oder das eher unserem Charakter entspricht, dann setzen wir uns zur Wehr und kämpfen. Das Dritte ist die Schockstarre – das heißt, dass man quasi einfriert und sich nicht mehr bewegen kann. Unseren Vorfahren hat das geholfen, weil viele tierische Fressfeinde auf Bewegung reagieren. Heute hilft uns das nicht mehr.more###

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