Eine der wohl bekanntesten Tic-Störungen ist das Tourette-Syndrom, bei dem verschiedene vokale und motorische Tics gemeinsam auftreten. Eine Reizung des neuronalen Netzwerks durch tiefe Hirnstimulation – bekannt als Hirnschrittmacher – hat bei Menschen mit Tourette-Syndrom zur Linderung der Symptome geführt. Die veröffentlichten Erkenntnisse könnten die Basis für eine bessere Therapie von schweren Tic-Störungen legen. Tics sind meist kurze Bewegungen oder Lautäußerungen, die oft in rascher Abfolge und ohne ersichtlichen Bezug zur aktuellen Situation wiederholt werden. Starkes Blinzeln oder Kopfschleudern beispielsweise zählen zu den motorischen, Räuspern oder Pfeifen zu den vokalen Tics. In vielen Fällen geht die Erkrankung mit weiteren Verhaltensauffälligkeiten wie Ängsten und Zwängen, ADHS oder einer Depression einher, die soziale Ausgrenzung der Betroffenen ist eine häufige Folge. In Erscheinung treten Tic-Störungen meistens in der Kindheit. Schätzungen zufolge sind bis zu vier Prozent aller Kinder betroffen, etwa jedes hundertste Kind erfüllt die diagnostischen Kriterien eines Tourette-Syndroms. Oftmals, aber nicht immer, schwächen sich die Symptome spätestens im Erwachsenenalter ab.
Welche Hirnareale lösen die Tics aus?
Nur wenig ist darüber bekannt, wie Tics im Gehirn eigentlich entstehen. „In den vergangenen Jahren hat die neurologische Forschung verschiedene Bereiche des Gehirns identifiziert, die für Tics eine Rolle spielen“, sagt der Letztautor der Studie Dr. Andreas Horn. Er ist Leiter einer Emmy Noether-Nachwuchsgruppe zu netzwerkbasierter Hirnstimulation, die sowohl an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie am Charité Campus Mitte als auch am Massachusetts General Hospital und Brigham & Women’s Hospital innerhalb der Harvard Medical School in Boston, USA, angesiedelt ist. Dr. Horn erklärt: „Unklar blieb jedoch: Welche dieser Hirnareale lösen die Tics aus? Welche sind stattdessen aktiv, um fehlerhafte Prozesse zu kompensieren? Wir konnten jetzt zeigen, dass es nicht eine einzelne Hirnregion ist, die die Verhaltensstörungen verursacht. Tics sind stattdessen auf Fehlfunktionen in einem Netzwerk verschiedener Areale im Gehirn zurückzuführen.“
Studie über verletzte Hirnareal
Für die Studie nutzte das Forschungsteam zunächst bereits veröffentlichte Fallbeschreibungen von Patientinnen und Patienten mit einer äußerst seltenen Ursache von Tic-Störungen: Ihre Symptome waren auf eine erworbene Schädigung der Hirnsubstanz zurückzuführen – beispielsweise durch einen Schlaganfall oder Unfall. Bei diesen Betroffenen entstehen Tics also eindeutig durch das verletzte Hirnareal. Die Forscher/-innen fanden in der Literatur 22 solcher Fälle und kartierten im Detail, wo sich die Verletzung der Hirnsubstanz befand und mit welchen anderen Hirnbereichen dieser Ort normalerweise über Nervenfasern verbunden wäre. Für diese Konnektivitätsanalyse nutzten sie einen „Durchschnittsschaltplan“ des menschlichen Gehirns, der an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie in Kooperation mit der Harvard Medical School in jahrelanger Arbeit auf Basis von Hirnscans von über 1.000 gesunden Menschen erstellt worden war.
Teil eines gemeinsamen Nervengeflechts
Die Forschungsgruppe konnte so zeigen, dass die Hirnschädigungen der Patientinnen und Patienten – trotz unterschiedlicher Lokalisation im Gehirn – nahezu alle Teil eines gemeinsamen Nervengeflechts waren. Dieses Netzwerk umfasste verschiedenste Bereiche des Gehirns, nämlich die Inselrinde (Cortex insularis), die Gürtelwindung (Gyrus cinguli), das Striatum, den Globus pallidus internus, den Thalamus sowie das Kleinhirn. Bassam Al-Fatly, einer der beiden Erstautoren der Studie von der Klinik für Neurologie und Experimentelle Neurologie, erläutert: „Diese Strukturen sind praktisch über das gesamte Gehirn verteilt und haben unterschiedlichste Funktionen, von der Steuerung der Motorik bis zur Verarbeitung von Emotionen. Sie alle wurden in der Vergangenheit bereits als mögliche Auslöser für Tics diskutiert, ein eindeutiger Beweis ist jedoch bisher nicht gelungen und auch ein direkter Zusammenhang zwischen diesen Strukturen war nicht bekannt. Jetzt wissen wir, dass diese Hirnbereiche ein Netzwerk bilden und tatsächlich die Ursache für Tic-Störungen sein können.“
Mit Elektroden das Tic-Netzwerk stimulieren
Dass das jetzt identifizierte Nerven-Netzwerk auch für die Behandlung „klassischer“ Tics relevant ist, zeigte das Forschungsteam anhand einer Analyse von 30 Patientinnen und Patienten mit Tourette-Syndrom, denen an drei verschiedenen europäischen Behandlungszentren Hirnschrittmacher mit unterschiedlich platzierten Elektroden implantiert worden waren. Eine solche tiefe Hirnstimulation kommt aktuell in besonders schweren Fällen zum Einsatz, wenn verhaltenstherapeutische und medikamentöse Ansätze nicht ausreichend wirken. Die Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestimmten anhand von Hirnscans für jeden der 30 Tourette-Betroffenen, wo exakt die Elektroden des Hirnschrittmachers positioniert worden waren und ob diese das Tic-auslösende neuronale Netzwerk stimuliert hatten. Tatsächlich zeigte sich, dass die Symptome der Betroffenen am stärksten zurückgingen, je präziser die Elektroden das Tic-Netzwerk stimulierten.
Berücksichtigung bei Implantation des Hirnschrittmachers
„Menschen mit schweren Tic-Störungen profitieren also offenbar am meisten, wenn die tiefe Hirnstimulation auf das Tic-Netzwerk abzielt“, sagt Privatdozent Dr. Christos Ganos, Erstautor der Studie und oberärztlicher Leiter der Ambulanz für Tic-Störungen an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie am Charité Campus Mitte. Der Freigeist-Fellow der VolkswagenStiftung betont: „Diese neue Erkenntnis werden wir in Zukunft in die Behandlung unserer Patientinnen und Patienten mit einfließen lassen, indem wir bei der Implantation des Hirnschrittmachers das Tic-Netzwerk berücksichtigen. Wir hoffen, dass wir so den wirklich hohen Leidensdruck für die Betroffenen noch besser abmildern können, um ihnen ein weitestgehend selbstbestimmtes und sozial erfülltes Leben zu ermöglichen.“
Hinweis: Ambulanz für Tic-Störungen der Charité
Die Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie unterhält seit 2017 am Charité Campus Mitte eine Ambulanz für Tic-Störungen. Sie bietet Betroffenen eine umfassende Beratung und Behandlung, die auf aktuellen neurologischen, psychiatrischen und verhaltenspsychologischen Erkenntnissen beruht und auch zusätzlich bestehende Störungen berücksichtigt. Zu den therapeutischen Angeboten gehört neben der medikamentösen und verhaltenstherapeutischen Behandlung auch die tiefe Hirnstimulation. Geleitet wird die Ambulanz von Prof. Dr. Andrea Kühn und Privatdozent Dr. Christos Ganos.
Quelle: idw/Charité
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