Muskelschwund aufgrund von Bewegungsmangel sei eine Krankheit, die bislang vor allem bei betagten Menschen, bei chronisch Kranken und als Folge längerer Phasen der Unbeweglichkeit beobachtet werde. Beispiele für solche chronischen Krankheiten könnten Krebs, Herzinsuffizienz oder Diabetes sein. Längere Unbeweglichkeit könne z.B. durch langes Tragen eines Gipsverbandes oder längere Bettlägerigkeit verursacht werden. Neu sei allerdings die Erkenntnis, dass auch junge Menschen an Muskelschwund leiden können, wenn sie entsprechendes Körpergewicht auf die Waage brächten, erklärt Ernährungsmediziner Prof. Dr. Bischoff von der Universität Hohenheim in Stuttgart. „Mit zunehmendem Übergewicht steigt erst einmal die Muskelmasse, um die Gewichtszunahme auszugleichen. Danach erreicht die Muskelmasse jedoch oft einen Kipp-Punkt, ab dem sie aufgrund von Bewegungsmangel wieder abnimmt.“
Je weniger Muskelmasse, desto größer das Risiko
Das Gefährliche daran: Bei stark bis krankhaft übergewichtigen Menschen verberge die Decke aus Körperfett den gefährlichen Muskelverlust. Die Folgen seien nicht zu unterschätzen, warnt Bischoff: „Patientinnen und Patienten mit Muskelschwund sind deutlich anfälliger für Krankheiten. Auch die Lebenserwartung sinkt“, so der Ernährungsmediziner. Diesen Zusammenhang hätten zum Beispiel auch die Erkrankungswellen während der COVID-Pandemie illustriert: „Da sich Muskelschwund bei adipösen Menschen auch auf die Atemmuskulatur auswirkt, hatten diese aufgrund der verringerten Atemleistung deutlich schwerere Verläufe.“
Ein Viertel der Bevölkerung potenziell betroffen
In Deutschland seien Übergewicht und Adipositas leider kein Randgruppenphänomen: Rund die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland sei inzwischen übergewichtig. Bei einem Viertel der Gesamtbevölkerung sei das Übergewichts so stark ausgeprägt, dass sie unter dem Namen Adipositas als Krankheit eingestuft werde, so Bischoff (s. Hintergrund). Zuerst sei der Zusammenhang zwischen Adipositas und Muskelschwund durch eine Häufung vonEinzelbeobachtungen aufgefallen. Um den Verdacht zu erhärten, entschlossen sich zwei Fachgesellschaften – die European Society for Clinical Nutrition and Metabolism (ESPEN) und die European Association for the Study of Obesity (EASO) – das Thema mit einer eigens einberufenen Expertenrunde zu klären.
Krankheitsbild der „sarkopenen Adipositas
Bischoff von der Universität Hohenheim in Stuttgart gehört zu einem internationalen Experten-Panel, das das neue Krankheitsbild der sogenannten „sarkopenen Adipositas“ definierte und Kriterien zur Diagnose erarbeitete. In ihrem Auftrag führte er mit mehr als 30 Kolleginnen und Kollegen die Expertise aus 16 Ländern Europas und aus Übersee zusammen. In einem 4-stufigen sogenannten Konsensus-Gespräch erarbeiteten die Fachleute aus verschiedenen Disziplinen eine klinischeDefinition und Diagnoseverfahren.
Vom Methodenmix zur Diagnose
Um die sogenannte „sarkopene Adipositas“ zu diagnostizieren, empfehlen sie einen Methodenmix. Dabei werden sowohl die Anteile von Fett- und Muskelmasse im Körper bestimmt als auch die Muskelfunktion gemessen. Um die Körperzusammensetzung zu bestimmen, biete sich z.B. die Bioimpedanzanalyse an: Das Analysegerät leite einen schwachen Strom durch den Körper der Patientinnen und Patienten. Aus dem elektrischen Widerstand lasse sich dann die Körperzusammensetzung berechnen. Alternativ könnten auch Messungen aus der Magnetresonanztomographie („MRT-Röhre“) verwendet werden. Um die Muskelfunktion zu testen, gebe es eine Reihe standardisierter Tests. Dabei werde z.B. gestoppt, wie oft Patienten in einer Minute aufstehen und sich wieder hinsetzen könnten oder welche Gehstrecke sie in 6 Minuten zurücklegten. „Von der sarkopenen Adipositas sprechen wir dann, wenn sowohl der Anteil von Muskelmasse zu niedrig als auch die Muskelfunktion bereits beeinträchtigt ist“, erklärt Bischoff. Bei der endgültigen Diagnose würden dann noch Details wie Alter, Geschlecht oder auch die ethnische Zugehörigkeit berücksichtigt.
Proteinreiche Kost als Hoffnungsträger
Wie die sarkopene Adipositas behandelt werden könne, sei derzeit noch Gegenstand der Forschung, betont der Ernährungsmediziner der Universität Hohenheim. Erste Ergebnisse zeichneten sich jedoch bereits ab. „Aus der Adipositas kennen wir bereits einige Programme zur Gewichts-Reduzierung. Eines davon wenden wir seit rund 20 Jahren erfolgreich an der Universität Hohenheim an. Nun müssen wir noch mehr darauf achten, dass die Muskelmasse bei der Gewichtsabnahme möglichst unangetastet bleibt bzw. wieder aufgebaut wird. Am aussichtsreichsten dafür scheint die Kombination aus Krafttraining und proteinreicher Ernährung.“
Chirurgische Maßnahmen benötigen intensivere Nachsorge
Noch weitreichender seien die Folgen der neuen Erkenntnisse für chirurgische Maßnahmen gegen krankhaftes Übergewicht, bei denen der Magen verkleinert oder der Darm verkürzt werde. „In solchen Fällen brauchen wir eine viel intensivere Nachsorge“, erklärt Bischoff. Denn gerade weil Proteine stark sättigten, sei es für Patientinnen und Patienten mit verkleinertem Magen sehr schwierig, ausreichende Mengen zu sich zu nehmen. „Da stellt sich sehr schnell ein Völlegefühl oder Übelkeit ein.“ Auch das nötige Bewegungstraining erweise sich als komplex. „In einer ersten Studie zusammen mit dem Universitätsklinikum Tübingen hatten wir versucht, die Betroffenen zum Training in Eigenregie zu ermutigen.“, berichtet Bischoff. Dazu hätten die Patientinnen und Patienten eine Wii-Konsole und entsprechende Trainingsprogramme erhalten. Der Erfolg sei bei diesem Ansatz jedoch überschaubar geblieben. „Es zeigt sich, dass Betroffene gerade nach einer chirurgischen Behandlung noch viel mehr aktive Betreuung benötigen“, so das Zwischenfazit des Ernährungsmediziners.
Übergewicht vs. Adipositas
Übergewicht bezieht sich auf ein Körpergewicht, das über dem gesunden Bereich liegt. Adipositas hingegen ist eine ernstere Erkrankung, bei der überschüssiges Körperfett zu Gesundheitsproblemen führen kann. Bei der Unterscheidung hilft der sogenannte Body-Mass-Index (BMI), bei der das Gewicht eines Menschen durch das Quadrat seiner Körpergröße geteilt wird. Adipositas wird in der Regel durch einen BMI von 30 oder höher definiert, während Übergewicht durch einen BMI von 25 bis 29,9 definiert ist. Adipositas kann das Risiko für Herzerkrankungen, Diabetes, Schlaganfälle und andere gesundheitliche Probleme erhöhen.
Bioimpedanzanalyse
Die Bioimpedanzanalyse gibt Aufschluss, wie viel Wasser und wie viel Masse sich im Körper eines Lebewesens befinden. Sie fußt darauf, dass Wasser den Strom wesentlich besser leitet als feste Masse. Bei der Bioimpedanzanalyse wird eine Elektrode an der Hand und eine am Fuß angebracht, so dass der Strom quer durch den Körperstamm fließt. Aus dem elektrischen Widerstand lässt sich der Anteil des Wassers berechnen. Da Muskeln mehr Wasser enthalten als Fett, lässt sich weiterhin auch das Verhältnis von Muskelmasse zu Fettgewebe bestimmen.
Quelle: idw/Universität Hohenheim
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