„Tomatengrippe“: Wirklich eine neue Kinderkrankheit?

Virusinfektion in Indien gibt Rätsel auf
Hardy-Thorsten Panknin, Prof. Dr. med. Matthias Trautmann
Hand-Fuß-Mund-Krankheit oder Tomatengrippe?
Hand-Fuß-Mund-Krankheit oder Tomatengrippe? © van_sinsy, stock.adobe.com
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Aktuelle Veröffentlichungen aus Indien nähren die Befürchtungen eines neuen, möglicherweise auch andere Länder bedrohenden Virusausbruchs [1, 2, 5]. Bis zum 26. Juli dieses Jahres wurden bereits 108 Fälle in Indien erfasst.

Die Erkrankungen traten bei Kindern unter 5 Jahre in 3 indischen Bundesstaaten und England auf: Bis zum 26. Juli dieses Jahres wurden bereits 108 Fälle von infizierten Kindern durch die zuständigen Krankenhäuser in Indien gemeldet. 82 davon stammen aus Kerala, 26 aus dem benachbarten Bundesstaat Odisha. Eine weitere Fallbeschreibung in „The Pediatric Infectious Disease Journal“ vom 19. August 2022 diagnostizierte zwei Fälle der sogenannten Tomatengrippe außerhalb von Indien, in Großbritannien. Die betroffenen Kinder hatten sich bei einer Reise nach Kerala infiziert. Allerdings erfolgte die Ansteckung bereits im Mai, die Untersuchung der Kinder erfolgte aber erst im Juni. Beide Kinder sind mittlerweile wieder genesen. Weitere Fälle in Großbritannien oder anderen Ländern sind bisher nicht bekannt [5].

Typische Erkrankungssymptome waren akut einsetzendes Fieber, Krankheitsgefühl, Gliederschmerzen, ein klein- oder großfleckiger Ausschlag sowie Läsionen an Lippen und in der Mundhöhle. Der aus roten Knötchen (Papeln) bestehende Hautausschlag fand sich besonders ausgeprägt auf den Handflächen und Fußsohlen, weniger stark an Armen und Beinen und am Rumpf. Die Bezeichnung Tomatengrippe oder Tomatenfieber, die in der Fachzeitschrift „Lancet Respiratory Medicine“ für die Erkrankung geprägt wurde [1], dürfte jedoch etwas übertrieben sein, denn die Hauterscheinungen erreichen selten Tomatengröße. Einzelne Läsionen können sich zu Blasen entwickeln, die dann tatsächlich eine Ähnlichkeit mit überreifen kleinen Cocktailtomaten haben können. In der Mehrzahl handelt es sich jedoch um etwa johannisbeergroße Läsionen. Die Erkrankung kann nur symptomatisch mit fiebersenkenden Mitteln behandelt werden. Sie klingt nach etwa 7-10 Tagen folgenlos ab. Schwere oder gar tödliche Verläufe scheinen bisher nicht beobachtet worden zu sein.

Beginn der Erkrankungsserie

Die Erkrankung wurde zuerst Anfang Mai 2022 im Bezirk Kollam des indischen Bundesstaates Kerala bemerkt. Ende Juli 2022 waren aus Kerala bereits 82 Erkrankungsfälle gemeldet worden. In den benachbarten Bundesstaaten Tamilnadu und Karnataka traten weitere Fälle auf (bisher n=26), sodass die Gesamtzahl, zusammen mit den englischen Fällen, bei 110 liegt [2, 5]. Neben dem typischen Hautausschlag waren vor allem starke Gelenkschmerzen an den großen Gelenken auffällig. Dieses Symptom findet sich sonst typischerweise bei Chikungunya-Virus- und Dengue-Virus-Erkrankungen. Diagnostisch gingen die indischen Ärzte so vor, dass sie mittels serologischer Tests eine Infektion durch folgende Viren ausschlossen:

  • Chikungunya-Virus
  • Dengue-Virus
  • Varizella/Zoster-Virus
  • Herpes-simplex-Virus (HSV).

Waren diese Viren durch negative serologische Tests ausgeschlossen, wurde die Diagnose einer Tomatengrippe indirekt per Ausschlussverfahren gestellt [1, 2].

Die Erkrankung scheint sehr ansteckend zu sein. Die indischen Ärzte vermuten, dass vor allem ein typisches Kleinkindverhalten die Verbreitung der Erkrankung begünstigt. Beispielsweise nehmen Kleinkinder gerne Spielzeug in den Mund, welches bereits von anderen Kindern berührt oder in den Mund genommen wurde. Erkrankungsfälle unter Erwachsenen sind bisher noch nicht bekannt geworden. Ebenso gibt es noch keine Fallberichte aus anderen Ländern und Kontinenten. Aufmerksamkeit ist jedoch aufgrund der offenbar leichten Übertragbarkeit geboten.

Kommentar der korrespondierenden Referenten

Die klinischen Manifestationen dieser Erkrankung ähneln denen der Hand-Fuß-Mund-Krankheit (engl. Hand-Foot-Mouth-Disease, HFMD). Diese Erkrankung kommt auch in Deutschland gelegentlich bei Kindern vor, ist aber in Asien deutlich häufiger. Sie betrifft ebenfalls überwiegend kleine Kinder im Alter von <5 Jahren. Typische Symptome sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Die HFMD wird durch verschiedene Enteroviren ausgelöst. In asiatischen Ländern ist es durch einige dieser Virustypen auch zu großen Epidemien von HFMD mit mehreren Tausend Fällen gekommen. Dabei wurde deutlich, dass die Erkrankung zwar meist relativ blande verläuft, in seltenen Fällen aber neurologische Folgeschäden verursachen kann (z. B. bleibende geistige Verlangsamung oder Lähmungen). Selten kam es auch zu tödlichen Verläufen. Erwachsene Patienten konnten betroffen sein, wenn sie sich an ihren erkrankten Kindern angesteckt hatten [3].

Klinik

Ausschlag

Auslösende Viren

Verlauf

Betroffen meist Kinder < 5 Jahre. Inkubationszeit 4,4 (3-5) Tage. Beginn mit Fieber und AbgeschlagenheitMakulopapuläres Exanthem vor allem an den Handflächen und Fußsohlen sowie am Gesäß. Schmerzhafte Ulcerationen im Rachen, im Mund und an der Zunge.Coxsackie-A-Viren (Typ A6, A8, A10, A16) und Enterovirus A71Dauer meist 7-10 Tage bis zum Verschwinden der Symptome und Abblassen des Ausschlags. 1-3 Wo-chen später kommt es bei der Hälfte der Betroffenen zur Schuppung an Hand-flächen und Fußsohlen und/oder zum Abstoßen von Finger- oder Fußnägeln.
Tab. 1: Übersicht zur Hand-Fuß-Mund-Krankheit (HFMD)

In den asiatischen Ländern werden aufgrund der doch nicht so seltenen Komplikationen der HFMD derzeit Impfstoffe erforscht, von denen 3 Impfstoffe (alle gegen das Enterovirus 71 gerichtet) in China bereits zugelassen wurden. Die zweimalige Impfung im Abstand von 28 Tagen erwies sich bei Kleinkindern als gut immunogen und klinisch protektiv [3]. Weitere Vakzinen gegen andere auslösende Viren der HFMD sind in Asien in Entwicklung.

Die Veröffentlichungen über die Tomatengrippe aus Indien gaben keine Auskunft darüber, ob überhaupt derartige Enteroviren bei den betroffenen Kindern gesucht wurden und ob es sich nicht möglicherweise ganz einfach wieder um eine neue Variante dieser altbekannten Kinderkrankheit handelte. Bei den beiden nach England importierten Fällen konnte man inzwischen das Coxsackievirus A16 nachweisen, ein typischer Erreger der HFMD [6]. Weitere Untersuchungsergebnisse bleiben abzuwarten. Aktuell besteht jedoch Grund zu der Annahme, dass die „Tomatengrippe“ keine neuartige Erkrankung ist, sondern lediglich eine etwas ungewohnte Verlaufsform der auch in Indien altbekannten HFMD [4].

Literatur
1.    Chavda VP, Patel K, Apostolopoulos V: Tomato flu outbreak in India. Lancet Respir Med 2022; DOI: 10.1016/S2213-2600(22)00300-9 (online).
2.    Jacob J: How Kerala is battling “tomato flu” outbreak. May 15, 2022. India Today. https://www.indiatoday.in/india-today-insight/story/how-kerala-is-battling-tomato-flu-outbreak-1949473-2022-05-15.
3.    Esposito S, Principi N: Hand, foot and mouth disease: current knowledeg on clinical manifestations, epidemiology, aetiology and prevention. Eur J Clin Microbiol Infect Dis 2018;37:391-398. DOI:10.1007/s10096-018-3206-x.
4.    Saxena VK, et al.: Isolation and molecular characterization of Coxsackievirus A6 and Coxsackievirus A16 from a case of recurrent hand, foot and mouth disease in Mumbai Maharashtra, India, 2018. Virus Dis 2020;31:56-60. DOI:10.1007/s13337-020-00567-1.
5.    Tang JW, Iqbal A, Hamal S, et al.: Kerala Tomato Flu - A Manifestation of Hand Foot and Mouth Disease. Pediatr Infect Dis J. 2022 Aug 19. DOI: 10.1097/INF.0000000000003668.
6.    Pitt S (University of Birmingham): Tomato flu outbreak in India‘: Here is what it really is. The Convervsation, 26 August 2022 (online). https://theconversation.com/tomato-flu-outbreak-in-india-heres-what-it-really-is-189413.

Hardy-Thorsten Panknin, Berlin
Kontakt: ht.panknin@berlin.de
Prof. Dr. med. Matthias Trautmann, Neu-Ulm

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