Neue Erkenntnisse über die Ausbreitung aggressiv wachsender Hirntumoren

Glioblastome & Co.
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Glioblastom
Glioblastom (histologisches Präparat mit typischen strichförmigen Nekrosen und palisadenartiger Anordnung pleomorpher Tumorzellen um die Nekrosen) (Hämatoxylin-Eosin-Färbung) Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
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Einem Forschungsteam unter Leitung der Charité – Universitätsmedizin Berlin ist es gelungen, ein physikalisches Grundprinzip beim Wachstum von Tumoren im Gehirn zu entschlüsseln. Damit ergeben sich neue Möglichkeiten zur Abschätzung der Gefährlichkeit von Hirntumoren.

Weiche Tumoren, wie Glioblastome es sind, durchdringen umgebendes Gewebe und breiten sich rasch aus. Solide Tumoren hingegen bestehen aus einem festen Gewebeverband und behalten bei ihrer Ausbreitung klar umrissene Grenzen. Ob sich ein Hirntumor verdrängend, mit eindeutigen Grenzflächen oder durchdringend ausbreitet, wird durch seine Fließeigenschaften bestimmt. Die zugrundeliegenden Mechanismen haben die Forschenden jetzt beschrieben.

Ausbreitung aggressiv wachsender Hirntumoren

Tumoren im Gehirn sind vor allem dann gefährlich, wenn sie infiltrativ wachsen, das heißt, wenn sie sich ohne erkennbare Grenzen in ein gesundes Gewebe hinein ausbreiten. Im Gegensatz zu abgekapselten Tumoren sind Glioblastome nur schwer behandelbar. Operativ lassen sie sich aufgrund ihrer Eigenschaften selbst mit neuesten Techniken meist nicht vollständig entfernen. Nach Bestrahlung und Chemotherapie kehren sie in der Regel zurück. Wie aber kann es sein, dass derart weiche Tumoren, eingebettet in härteres Hirngewebe überhaupt wachsen können? Warum wachsen sie zudem so schnell und breiten sich so aggressiv aus? Nach den Gesetzmäßigkeiten der Physik weicher Festkörper scheint das zunächst nicht möglich.

Gehirn reagiert ähnlich wie Honig

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Prof. Dr. Ingolf Sack von der Klinik für Radiologie an der Charité und an der Abteilung für Neuroradiologie des Universitätsklinikums Leipzig haben in der aktuellen Studie die mechanischen Eigenschaften von Neurotumoren und deren Grenzverhalten untersucht. Solide, abgekapselte Tumoren weisen eine höhere mechanische Steifigkeit auf und können sich so im umliegenden Gewebe mit festen Grenzen ausbreiten. Um das ungewöhnliche Verhalten von Glioblastomen zu beschreiben, die in eine starrere Umgebung als sie selbst vordringen, ist das Forschungsteam einen Perspektivwechsel eingegangen: „Wir betrachten Gehirngewebe nicht mehr als bloßen Festkörper, sondern als hochviskose, also sehr zähe Flüssigkeit. Dann werden die physikalischen Mechanismen verständlich“, sagt Studienleiter Prof. Sack. „Das Gehirn reagiert auf langen Zeitskalen ähnlich wie Honig“, erklärt Prof. Dr. Josef A. Käs, von der Fakultät für Physik und Geowissenschaften an der Universität Leipzig. „Wie sich Tumoren darin ausbreiten, klar abgegrenzt oder infiltrativ, bestimmt wiederum deren Zähigkeit, die Viskosität. Ist sie gering, wie etwa bei Wasser, ergeben sich instabile Grenzflächen. Der quasi dünnflüssige Tumor sickert förmlich in den umschließenden Honig. Breitet sich der Tumor allerdings mit hoher Viskosität aus, ist also deutlich zäher, beispielsweise wie Tofu, dann ergeben sich glatte, fest umrissene Grenzflächen.“

Dieses Prinzip der viskosen Grenzflächen ist in der Physik bereits bekannt und beschreibt, wie an Grenzen zwischen Flüssigkeiten unterschiedlicher Viskosität Instabilitäten auftreten. Anhand von gewebsimitierenden Modellen wie Heparin-Gel oder Tofu konnte das Forschungsteam zeigen, wie ihre anomale Fließeigenschaft es weichen Hirntumoren ermöglicht, physisch in umliegendes Gewebe einzudringen.

Nutzung der hochauflösenden Gehirn-Elastografie

Hochauflösende Gehirn-Elastografie, eine bildgebende Methode auf Basis der Magnetresonanz Tomografie (MRT) – sie ist an der Charité entwickelt worden, um die Konsistenz von Tumoren sichtbar zu machen – ermöglichte es, diese neuen Erkenntnisse auf Gehirntumore anzuwenden. Invasiv wachsende Glioblastome weisen einen höheren Wassergehalt auf als das umliegende Gewebe, während beispielsweise gutartige Meningeome weniger Wasser enthalten als Hirngewebe. Dabei unterscheiden sich beide Tumorarten nicht hinsichtlich ihrer mechanischen Steifigkeit, beide Tumorarten sind weicher als umliegendes Gewebe. Die Forschenden schließen aus dieser Tatsache, dass vor allem die Fließeigenschaften, also wie dünnflüssig oder wie zähflüssig sich ein Tumor verhält, Aufschlüsse über sein Infiltrationspotential und somit seine Aggressivität geben können. „Für die diagnostische Radiologie ergeben sich damit völlig neue Möglichkeiten zur Abschätzung der Gefährlichkeit von Hirntumoren, denn die Viskosität von Gehirn und Tumoren lässt sich im Rahmen einer Gehirn-Elastografie ohne Kontrastmittel, Strahlung und invasive Operation bestimmen“, resümiert Prof. Sack. Weitere klinische Studien sind notwendig, um künftig eine Klassifizierung von Hirntumoren mittels der noch jungen bildgebenden Technik zu ermöglichen.

Informationen zur Studie

Die Studie wurde im Rahmen des Horizon-2020-Programms der Europäischen Union (ID 668039, EU FORCE – Imaging the Force of Cancer), des Graduiertenkollegs „BIOphysical Quantitative Imaging Towards Clinical Diagnosis (BIOQIC)“ sowie des Sonderforschungsbereichs „In vivo Darstellung pathologischer Veränderungen der Extrazellulärmatrix – Matrix in Vision“ durchgeführt. Die Charité ist Sprecherin dieses deutschlandweit ersten Sonderforschungsbereichs in der diagnostischen Radiologie.

Literatur:

Kaspar-Josche Streitberger, Ledia Lilaj, Felix Schrank, et al.: How tissue fluidity influences brain tumor progression. PNAS, first published December 16, 2019, DOI: doi.org/10.1073/pnas.1913511116.

Quelle: idw/Charité – Universitätsmedizin Berlin

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