Warum wird die graue Hirnsubstanz bei MS angegriffen?
Tatsächlich ist es so, dass bei Multipler Sklerose regelmäßig die graue Hirnsubstanz von Entzündungsreaktionen betroffen ist. Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass es gerade diese Läsionen sind, die für die unumkehrbare Zerstörung des Hirngewebes und das stete Fortschreiten der Krankheitssymptomatik verantwortlich sind.
Das ist die Neuigkeit der Göttinger Arbeit: Die Forscher haben herausgefunden, wann das Immunsystem doch die graue Hirnsubstanz angreift. Üblicherweise werden im Modell zur Auslösung der MS-artigen Erkrankung Zellen herangezogen, die gegen Bestandteile der Nervenummantelung, der sogenannten Markscheide, gerichtet sind. Diese Zellen lösen eine mit Lähmungen einhergehende Erkrankung aus. Die Göttinger Forscher wichen von dem altbekannten Schema ab. Sie untersuchten Immunzellen, die gegen ein bestimmtes Eiweißbestandteil von Nervenzellen, das sogenannte beta-Synuklein, gerichtet sind.
„Unerwartet traten bei den Tieren neuartige neurologische Krankheitszeichen auf. Die Schädigungen sahen auch anders aus, die pathogenen Zellen drangen praktisch ausschließlich in die graue Hirnsubstanz ein“, sagt Dr. Francesca Odoardi, Institut für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose Forschung der UMG, und Mit-Seniorautorin der Studie. Diese Entzündungsreaktionen verursachten, vor allem bei mehrfachen Schüben, irreversible Zerstörungen und ein Schrumpfen der grauen Hirnsubstanz, ähnlich wie es von der Multiple Sklerose beim Menschen bekannt ist. In der Tat konnten die Forscher im Blut von Multiple Sklerose-Betroffenen auch eine Vermehrung dieser speziellen T-Zellen finden. Diese waren besonders bei Patienten mit fortschreitendem Krankheitsverlauf erhöht.
Was kann an daraus lernen?
Die Beobachtungen des Göttinger Forscherteams könnten für die Behandlung der Multiplen Sklerose von Bedeutung sein. Die Möglichkeit, im Modell die autoimmune Zerstörung der grauen Hirnsubstanz nachzuvollziehen und damit systematisch untersuchen zu können, kann möglicherweise zur Entwicklung geeigneter therapeutischer Gegenstrategien genutzt werden. Zudem könnte die Erforschung der pathogenen T-Zellen im menschlichen Blut dazu führen, Patienten mit Multipler Sklerose besser über die möglichen Risiken ihrer Krankheit und geeignete Therapieoptionen aufzuklären.
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Die graue Hirnsubstanz, die Steuerzentrale des Gehirns: Unser Gehirn funktioniert ähnlich wie ein Computer durch Weitergabe und Verarbeitung elektrischer Signale. Die graue Substanz ist die Speicher- und Verrechnungszentrale, quasi Festplatte und Prozessor in einem. Hier liegen die Nervenzellen, welche die Signale aus der Umwelt oder den Körperorganen erhalten und verarbeiten, d.h. verschalten, speichern und weiterleiten. Dadurch kann das Gehirn wesentliche Funktionen unseres Körpers steuern, wir können uns gezielt bewegen, denken, uns erinnern, fühlen und planen.
Die weiße Hirnsubstanz besteht dagegen im Wesentlichen aus den Fortsätzen der Nervenzellen, die von spezialisierten Isolationsschichten, den sogenannten Markscheiden, ummantelt sind. Diese fördern die elektrische Reizweiterleitung. Man kann die weiße Substanz des Gehirns daher am ehesten mit dem Kabelwerk im Computer vergleichen. Sie ist darauf spezialisiert, die ein- und ausgehenden Signale möglichst schnell und zielgerichtet weiterzuleiten.
Neurologische Erkrankungen können die graue wie die weiße Hirnsubstanz betreffen. Schädigungen der grauen Hirnsubstanz haben die folgenreichsten Auswirkungen, das zeigen Krankheitsbilder der Alzheimer oder Parkinson´schen Erkrankung. Bei diesen Erkrankungen gehen die Nervenzellen der grauen Substanz in bestimmten Hirnregionen zugrunde. Erkrankte verlieren im Laufe der Erkrankung, die Fähigkeit sich zu erinnern und zu denken (sogenannte Alzheimer-Demenz), oder es geht die Fähigkeit, sich koordiniert zu bewegen (sogenannte Parkinson´sche Schüttellähmung), verloren.
Die graue Hirnsubstanz ist aber auch bei der Multipler Sklerose vom Krankheitsprozess betroffen. Multiple Sklerose ist eine Erkrankung, die mit z.T. schweren fortschreitenden neurologischen Ausfällen einhergeht und vor allem Menschen in ihrem aktivsten Lebensabschnitt, dem jungen Erwachsenenalter, betrifft. Daher ist die Erkrankung nicht nur wegen der tragischen gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen, sondern auch wegen der sozioökonomischen Konsequenzen von Bedeutung.
*Beta-Synuclein-erkennende T-Zellen stürmen die graue Hirnsubstanz. Zu sehen ist eine mikroskopische Aufnahme in der Hirnrinde einer Ratte. Die pathogenen T-Zellen (grün) sind in großer Zahl in das Gewebe der grauen Hirnsubstanz eingedrungen. Zum Teil bilden sie direkte Kontakte mit einer Nervenzelle und deren Fortsätzen (grau-weiß). Bild: Institut für Neuroimmunologie und Multiple-Sklerose-Forschung
Quelle: idw/Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität