Licht und Leben – Der Biophysiker Max Delbrück (1906–81)

Begründer der Molekulargenetik und Nobelpreisträger für Physiologie und Medizin
Christof Goddemeier
Licht und Leben – Der Biophysiker Max Delbrück (1906–81)
Max Delbrück während der Zeit an der Vanderbilt University © Jonathan Delbruck, Gemeinfrei, wikimedia
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Als Max Delbrück 1906 in Berlin geboren wurde, existierte das Wort „Gen“ noch nicht. Ein Jahr zuvor hatte der britische Genetiker William Bateson zwar den Begriff „Genetik“ geprägt, doch das „Gen“ als Träger der Vererbung führte der dänische Botaniker Wilhelm Johannsen 1909 in die Wissenschaft ein.

Delbrück war eigentlich Physiker, doch während seines Lebens wechselte er mehrmals das wissenschaftliche Gebiet, auf dem er sich betätigte. Das war nicht ungewöhnlich für die „neue Biologie“ der Molekulargenetik – Salvador Luria, einer aus dem Nobelpreisträgertrio von 1969, war Mediziner, und Alfred Hershey hatte Chemie studiert.

Ausgehend von der Arbeit des Atomphysikers Niels Bohr und seiner Idee der Komplementarität wandte Delbrück sich ab 1931 der Biologie zu und begann seine Forschung mit Bakteriophagen, also Viren, die Bakterien angreifen, sich in ihnen vermehren und sie zerstören können. Mit der Elektronenmikroskopie war es ab Anfang der 1940er-Jahre möglich, Phagen sichtbar zu machen. Was man vorher aus anderen Experimenten geschlossen hatte, konnte man nun direkt beobachten. In ihrer bahnbrechenden Arbeit „Mutationen in Bakterien von Virussensitivität zu Virusresistenz“ (1943) zeigten Delbrück und Luria, dass Mutationen in Bakterien spontan und zufällig auftreten und keine Anpassung der Bakterien an ihre Umgebung darstellen. Wie Gregor Mendel die Genetik begründete, legten Delbrück und Luria damit den Grundstein für die Bakteriengenetik, aus der später die Molekularbiologie hervorging.

Dabei konzentrierte Delbrück sich sein Leben lang auf wissenschaftliche Fragen und hielt sich aus der Politik heraus. Ernst Fischer zufolge war er der „Intellektuelle der Molekularbiologie“. Mögen andere mehr zu der neuen Wissenschaft beigetragen haben – Delbrück machte als „Sokrates der Biologie“ durch genaues Zuhören und Nachfragen Forscherinnen und Forscher immer wieder auf neue Wege aufmerksam.

Die Familie, in die Delbrück als jüngstes von sieben Kindern geboren wurde, konnte mit berühmten Vorfahren aufwarten. Der wohl bekannteste unter ihnen war Rudolf (1817–1903). Er wirkte an der Bildung des Norddeutschen Bundes mit, leitete die Reichskanzlei und galt als „rechte Hand“ von Reichskanzler Otto von Bismarck. Seinen Vornamen erhielt Delbrück nach einem Bruder seines Vaters, einem bekannten Chemiker. Sein Vater Hans war Professor für Geschichte an der Berliner Universität und gab die „Preußischen Jahrbücher“ mit Aufsätzen zu Politik und Kultur heraus. Die Mutter Carolina Thiersch war eine Enkelin des Chemikers Justus von Liebig. „Der Name Delbrück‘ war ziemlich gut bekannt; eigentlich zu gut für das Wohlergehen eines Knaben, der sich zwiespältig fühlte, weil er zwar sofort als Mitglied dieses Klans erkannt (...) wurde, der aber keine Anerkennung für sich selbst fand“, schrieb Delbrück in seinen Notizen.

Den Ersten Weltkrieg durchlebte die Familie in Berlin, Delbrücks ältester Bruder Waldemar fiel 1917 in Mazedonien. Nach dem Abitur entschied Delbrück sich zunächst für die Astronomie. „Ich wollte ein Gebiet haben, was mich am allermeisten absetzte von anderen Mitgliedern der Familie. (...) Ich war der Allerjüngste, und niemand anderes wusste etwas von Naturwissenschaften und noch weniger von Astronomie“, schrieb Delbrück zu seiner Wahl. Doch er merkte bald, dass die Astronomie ihn nicht zufriedenstellte, denn Studenten wurden vor allem darin ausgebildet, „jede Nacht stundenlang Sterndurchläufe zu messen“, laut Delbrück mit „katastrophale[n] Auswirkungen auf die intellektuelle Qualität (...)“. In einer Doktorarbeit bei Hans Kienle in Göttingen versuchte er, eine Theorie zu entwickeln, mit der man die Geburt eines Sterns erklären konnte. Doch er kam mit seinen Berechnungen nicht weiter und wechselte zur Quantenphysik. Göttingen war damals durch Max Born und seine beiden Assistenten Wolfgang Pauli und Werner Heisenberg weltbekannt. Bei Born promovierte Delbrück 1930.

Max Planck hatte die Quantentheorie entdeckt und Albert Einstein die allgemeine Relativitätstheorie und die Theorie der Gravitation formuliert. Die klassische Physik kam mehr und mehr ins Wanken. Wichtige Schritte gelangen 1925 und 1926: Heisenberg stellte zunächst die grundlegenden Gleichungen auf und entwickelte dann eine umfassende Theorie über das Verhalten der Atome. Neu daran war, dass er nur messbare Parameter zuließ und auf Größen verzichtete, die man experimentell nicht beobachten konnte – seine Gleichungen enthielten nur Frequenzen und Amplituden. 1931 verbrachte Delbrück ein halbes Jahr bei Niels Bohr in Kopenhagen. Der hatte bereits 1913 sein Atommodell vorgestellt. Doch die klassische Elektrodynamik gelangte bei der Beschreibung von Systemen atomarer Größe an ihre Grenzen. Bohrs theoretische Erweiterung der klassischen Physik mittels der Planckschen Konstante, dem „elementaren Wirkungsquantum“, verstand man aber erst zehn Jahre später mit der Formulierung der Quantenmechanik.

1927 beschrieb Bohr seine Idee von der Komplementarität. Sie besagt, dass zwei methodisch verschiedene Beobachtungen eines Phänomens einander ausschließen, aber dennoch zusammengehören und sich ergänzen, etwa der Welle- und Teilchencharakter des Lichts. Je nach Versuchsanordnung tritt die eine oder die andere Eigenschaft hervor. Bohrs Idee beeinflusste Delbrück nachhaltig, und er machte sich daran, ihre Stichhaltigkeit in der Biologie zu überprüfen.

Im September 1937 kam Delbrück mit dem Schiff in New York an. Ein Stipendium der Rockefeller Stiftung sicherte sein Einkommen. Auf einer Tour durch die genetisch orientierten Labors des Landes wollte er herausfinden, wie man Bohrs Rätsel lösen konnte. Einige Hindernisse waren zu überwinden, bis er schließlich mit Bakteriophagen zu arbeiten begann. Bakterielle Viren beschrieb als Erster Frederick Twort 1915. Den Namen Bakteriophagen gab ihnen zwei Jahre später Félix d’Hérelle. Mit diesen „Atomen der Biologie“ (Fischer) konnte Delbrück ohne aufwendige Technik endlich die Daten sammeln, die für eine quantitative Analyse nötig waren. Bekannt war, dass es Viren gab und dass sie aus Proteinen und Nukleinsäuren bestanden. Doch niemand wusste genau, was Proteine und Nukleinsäuren sind. Die Größenverhältnisse legten für Delbrück nahe, Phage und Gen gleichzusetzen. Hier konnte er also das Gen an sich untersuchen. Mit der „Ein-Schritt-Vermehrungskurve“ gelang es ihm mit Emory Ellis, die Zahl der Phagen zu bestimmen, die aus einem Bakterium „schlüpften“ („Wurf“). Was aber geschah da? Die Rätsel der Materie musste man quantentheoretisch lösen. Delbrück wollte dem Rätsel des Lebens mit ähnlichen Denkfiguren nahekommen. Konnte man aus der Quantenmechanik eine anziehende Kraft zwischen identischen Makromolekülen herleiten, wie Pascual Jordan es versuchte?

1941 heiratete Delbrück die Amerikanerin Mary Bruce. Gemeinsam hatten sie vier Kinder. Ursprünglich hatte er nach Deutschland zurückkehren wollen; aufgrund der Verhältnisse dort entschloss er sich jedoch, in Amerika zu bleiben. Die meiste Zeit verbrachte er am California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena. 1947 wurde er dort Professor für Biologie.

Vor Einführung der Elektronenmikroskopie vollzog sich das Wachstum von Phagen in einem Bakterium sozusagen hinter verschlossenen Türen. Was in der Zelle passierte, wusste man nicht. 1940 traf Delbrück Luria in Philadelphia. Nach ersten erfolgreichen Versuchen entschlossen sie sich zur Zusammenarbeit. Sie beschrieben das Phänomen der Interferenz, das auftritt, wenn zwei Phagen sich gegenseitig behindern und nur einer der beiden Nachkommen produziert. Die Elektronenmikroskopie zeigte dann, dass der Phage nicht ins Innere der Wirtszelle gelangt, sondern außen anhaftet. Nach einer gewissen Zeit löst sich das Bakterium auf, und bis zu Hundert neue Phagen treten daraus hervor. Was aber war die Ursache des sekundären Wachstums in einer für die Phagen empfänglichen Kultur von E. coli? Sekundäres Wachstum kann man leicht beobachten: Eine Bakterienkultur sieht trübe aus. Gibt man Phagen hinzu, wird sie als Ausdruck der Lyse klar und durchsichtig. Wird die Kultur nach einigen Stunden erneut trübe, kann man daraus schließen, dass ein resistenter Bakterienstamm gewachsen ist, der dem Phagenangriff widersteht. Die Frage, die seit Charles Darwins „Entstehung der Arten“ diskutiert wurde, lautete: Traten diese Mutationen in der Bakterienzelle auch auf, wenn keine Phagen in der Nähe waren, oder passten sich die Bakterien lediglich an die vorhandenen Viren an? Mutation oder Adaption? Delbrück und Luria zeigten, dass Ersteres der Fall war. Mithilfe der „Fluktuationsanalyse“ kann man zwischen Mutation und Adaption unterscheiden: Im ersten Fall schwankt die Zahl der resistenten Bakterien weit mehr als im zweiten Fall. Mit ihrer Arbeit stürmten die beiden „die letzte Festung des Lamarckismus“ (Fischer), den damals etliche Bakteriologen vertraten. Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) war der Ansicht, dass Organismen Gelerntes an die nächste Generation vererben können. Im Februar 1943 stieß Alfred Hershey zu Delbrück und Luria, im April traf sich das Trio zum ersten Mal. Dabei hatten Delbrück und Luria die Daten der Experimente Oswald Averys im Gepäck. Der hatte gezeigt, dass mindestens ein Teil der genetischen Information in Form von Nukleinsäuren (DNA) vorlag. Allmählich verstand man die Rolle der DNA immer besser. 1952 fanden Hershey und Martha Chase, dass nur die Phagen-DNA in das Bakterium gelangt, während das Phagen-Protein außen verbleibt. Damit war klar, dass die DNA die gesamte genetische Information enthalten musste. Ein Jahr später entdeckten James Watson und Francis Crick die Doppelhelixstruktur der DNA. George Beadle und Earl Tatum hatten bereits 1941 dargelegt, dass ein Gen für genau ein Protein verantwortlich ist (Ein-Gen-ein-Protein-Hypothese).

1969 erhielten Delbrück, Luria und Hershey für ihre Arbeiten den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. „Die ganze Sache mit dem Nobelpreis ist ja so eine ulkige Angelegenheit. Plötzlich über Nacht wird man zum Fernsehstar. Wie kommt man dazu? Man kommt dazu wie die Jungfrau zum Kinde. Man weiß nicht wie“, kommentierte Delbrück. Beinahe sein ganzes wissenschaftliches Leben suchte Delbrück nach einer für das Leben fundamentalen Reaktion, die man als ein biophysikalisches Gesetz erfassen konnte. Dabei stieß er auf die Fotosynthese und das Weber-Fechner-Gesetz, ein bereits hundert Jahre zuvor formuliertes einfaches Gesetz der Wahrnehmung. Doch was in der Physik funktioniert – der Schluss von einem einfachen Gesetz auf einen allgemeinen Zusammenhang – funktioniert in der Biologie nicht. Delbrück sah ein: „(...) jede lebende Zelle trägt die Milliarden Jahre alte Erfahrung ihrer Vorfahren mit sich herum. Man kann nicht erwarten, einen so schlauen Vogel mit ein paar einfachen Worten zu beschreiben.“

Demnach war Bohrs Idee der Komplementarität nicht einfach auf die Biologie übertragbar. Doch Delbrück blieb optimistisch. Am Rande eines Vortrags 1963 gab er seiner Hoffnung Ausdruck, beim „Verstehen der nächsthöheren Ordnung auf diese Beobachtungskomplementarität“ zu treffen, für die man dann neue Konzepte einführen müsse: „Ich halte das für möglich und bin darauf gespannt.“

Literatur

1. Delbrück M: Wahrheit und Wirklichkeit – Über die Evolution des Erkennens. Hamburg: Rasch und Röhring Verlag 1986.
2. Fischer EP: Das Atom der Biologen. Max Delbrück und der Ursprung der Molekulargenetik. München: R. Piper GmbH & Co. KG 1988.

Entnommen aus MTA Dialog 7/2021

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