Kommentar: Politik macht es sich wieder zu leicht

Explodierende Coronainfektionen
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Notbremse
Steigende Infektionen. Brauchen wir wieder die Notbremse? Aisano, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons
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Wenn jetzt wieder einige Politiker behaupten, die aktuelle Corona-Lage sei nicht vorhersehbar gewesen und sie seien ja nicht ausreichend gewarnt worden, dann schlägt das mehr als dem Fass den Boden aus.

Seit Sommer (und teils schon länger) gibt es die unüberhörbaren Warnungen von vielen Seiten, dass wir mit Delta schlechter in den Herbst/Winter starten als im Vorjahr. Allerdings muss man den Politikern zugutehalten, dass es auch einige „Experten“ gab, die schon von „Freedom Day“ fabuliert hatten, als die Richtung schon längst klar war. Inzwischen sollten Politiker nach fast zwei Jahren Pandemie aber echte Experten von „Möchtegernfachleuten“ unterscheiden können.

Auch genügt der Blick auf einfachste Zusammenhänge: Wenn die Deltavariante deutlich ansteckender ist und rd. 60% vollständig geimpft sind und kein Impfstoff zu 100 Prozent schützt, gleicht sich dies schon fast wieder aus. Also wundert es eigentlich niemanden, dass sich die Lage so dermaßen verschärft hat. Da auch die Schulen nicht ausreichend Schutz vor Ansteckung bieten und zwischendurch sogar Masken als quasi einziges Schutzelement entfallen waren (zumindest regional), muss sich auch niemand verwundert die Augen reiben, dass Schulen inzwischen zu Treibern der Pandemie geworden sind. Offiziell wird dies freilich noch nicht betont, denn die Schulen müssen ja offen bleiben. Allerdings hatte sich schon früh nach den Sommerferien in den RKI-Daten gezeigt, dass unter den Jüngeren zunehmende Inzidenzen zu beklagen waren. Doch so richtig wollte niemand darauf reagieren und das Prinzip Hoffnung wurde wieder einmal hochgehalten. Dass eine Durchseuchung bei den Schülern keine gute Idee ist, hatte jüngst das RKI betont (Wieler LH, Häcker G: Warum müssen wir Kinder vor einer SARS-CoV-2-Infektion schützen? Epid Bull 2021;46:3 -9, DOI: 10.25646/9204).

In einer Literaturstudie des Tübinger Epidemiologen Prof. Dr. Martin Eichner, die er im Auftrag des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg gemacht hat, wird gezeigt, dass etwa 90 Prozent der gesamten Bevölkerung geimpft sein müssten, damit sich die grassierende Deltavariante des Coronavirus selbst dann nicht weiter ausbreiten kann, wenn alle Kontakteinschränkungen aufgehoben würden. Dieser Wert dürfte utopisch sein, wenn man sich die aktuelle Zahl der Impfskeptiker und –gegner anschaut. Insofern dürften wir einer Pingpong-Epidemie entgegensteuern, bis alle entweder geimpft sind oder infiziert wurden. Jedoch könnte man abermals die Rechnung ohne den Wirt (das Virus) machen. Sollte eine noch „brutalere“ Variante um die Ecke kommen, bei der die aktuell verabreichten Impfstoffe deutlich schlechter wirken, wäre auch diese Rechnung Makulatur. Dann beginnt das ganze „Spiel“ von vorne. 

Zumindest bisher sind die Impfstoffe, die derzeit verabreicht werden, alle geeignet und sehr wirksam – auch das bestätigen die Ergebnisse von Prof. Eichner. Selbst bei der sehr aggressiven Delta-Variante schützen demnach die Impfstoffe zu 90 bis 100 Prozent davor, sehr schwer zu erkranken, ins Krankenhaus zu müssen oder gar zu versterben. Die Studie zeigt zudem, dass - auch wenn es viel mehr geimpfte Personen in der Bevölkerung gibt als Nichtgeimpfte - so doch die Nichtgeimpften die Übertragungssituation dominieren: Von der nichtgeimpften Minderheit gehen etwa 64 bis 78 Prozent aller Infektionen aus. Gleichzeitig sei die Infektiosität von geimpften Infizierten um etwa 40 Prozent niedriger als von nichtgeimpften Infizierten.

Impfen allein wird jetzt vermutlich nicht mehr reichen, die Welle zu brechen. Es müssen schon auch die Kontakte deutlich zurückgefahren werden und AHA+L endlich wieder konsequenter umgesetzt werden. Masken unter der Nase beim Einkaufen sind nicht eben hilfreich, um Infektionsketten zu unterbinden. Auch mehren sich die anekdotischen Erzählungen, dass sich einige nicht an die Quarantänevorschriften halten. Ohne stärkere Kontrolle dürfte es somit auch nicht gehen.

Indes dürfte es die irrsinnigste Idee gewesen sein, verstärkt die Auslastung der Intensivstationen als Handlungsmaßstab für Anti-Corona-Maßnahmen auszurufen. Nach dem Motto, die Inzidenzen seien bei zunehmender Impfquote unwichtiger geworden. Wohin das geführt hat, ist jetzt zu sehen. Die Inzidenzen können ein guter Frühwarnindikator sein, den man leichtfertig über Bord geworfen hatte. Wenn die ICUs erst einmal voll sind, ist es sehr schwer gegenzusteuern. Das zeigt sich aktuell in Österreich mit einem Lockdown für Ungeimpfte. Doch auch Teilen Deutschlands dürfte das bevorstehen, um das Schlimmste noch abzuwenden. Denn eine harte Triage dürfte am Ende niemand wollen.

Die Studie von Prof. Martin Eichner ist abrufbar unter t1p.de/ug4h.

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