Es war offensichtlich ein kluger Schachzug von Bundeskanzler Olaf Scholz das Gesicht von Team Vorsicht in die Verantwortung zu holen und damit auf Kabinettslinie zu bringen. Das Gleiche ist anzunehmen beim Corona-Expertenrat, dessen Mitglieder sich mit öffentlichen Äußerungen inzwischen auffällig zurückhalten, während die offiziellen Verlautbarungen dieses Gremiums in der Politik weitgehend ungehört bleiben. Auch RKI-Präsident Lothar Wieler fällt inzwischen deutlich weniger als Mahner auf. Dass die aktuelle Stoßrichtung einem Ritt auf der Rasierklinge gleicht, dürfte allen Genannten bewusst sein. Mit solch hohen Inzidenzen wie aktuell in die weitere Öffnung zu marschieren, könnte zum Bumerang werden. Und wenn es richtig bescheiden läuft, könnte dies sogar den eigentlich erwarteten entspannten Sommer verhageln. Es muss nur eine etwas gefährlichere Variante entstehen oder die Impfungen in der älteren Bevölkerungsgruppe schlechter wirken. Ein Szenario, das man sich gar nicht ausmalen möchte. Doch die Angelsachsen haben das Bonmot geprägt: Hope for the best, be prepared for the worst. Dies dürfte in der aktuellen Situation sicherlich die bessere Handlungsalternative sein. Wie man sich auf die weitgehende Abschaffung der Maskenpflicht einigen konnte, lässt sich logisch ohnehin nicht erklären - das Mittel, das diejenigen vermutlich am besten schützt, die sich nicht impfen lassen können oder deren Immunantwort zu schwach ist. Der Begriff der „Schattenfamilien“ scheint es nicht bis zu unseren Spitzenpolitikern geschafft zu haben.
War Deutschland bisher relativ gut durch die Pandemie gekommen, was angesichts von über 125.000 COVID-19-Toten sicherlich auch sarkastisch klingt, führt Deutschland bei den SARS-CoV-2-Infektionen unter den großen Ländern inzwischen auch in Europa die Liste an. Da sich nach derzeitiger Kenntnis mit Omikron offensichtlich keine Herdenimmunität einstellt, dürfte das Konzept der Durchseuchung, falls es denn wirklich ernsthaft Grundlage für die aktuellen Entscheidungen sein sollte, kaum geeignet sein, die Pandemie damit zu beenden. Im Gegenteil, neue Forschungsergebnisse lassen befürchten, dass schwerwiegendere Folgen auch bei leichten Infektionen nicht auszuschließen sind. Eine erste Studie aus UK mit einem Vergleich von Hirnscans vor und nach Infektion hat gezeigt, dass auch „milde“ COVID-19-Verläufe zu einer Abnahme der grauen Substanz in einigen Hirnregionen führen können. Betroffen waren Bereiche, die z.B. für Geruch und Gedächtnis zuständig sind. Zudem wurde zumindest in dieser Studie bei den Infizierten ein größerer kognitiver Rückgang verzeichnet. Insgesamt zeigte sich, dass die Gesamthirngröße bei infizierten Teilnehmern um 0,2 bis 2 Prozent geschrumpft war. Auch das Thema Long COVID, das damit eventuell auch zusammenhängen könnte, findet nach wie vor zu wenig Beachtung. Die Folgen für Gesellschaft und Ökonomie könnten am Ende deutlich schwerwiegender sein als die echte Bekämpfung der Pandemie. Von den Einzelschicksalen ganz zu schweigen.
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