Kleinhirnentzündung: Neue Erkrankung entdeckt

Neue Autoantikörper im Nervenwasser als möglicher Biomarker
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Professor Dr. Kurt-Wolfram Sühs am Bildschirm
Hat eine neue Form der schweren Kleinhirnentzündung durch Autoantikörper entdeckt: Neurologe Professor Dr. Kurt-Wolfram Sühs. © Karin Kaiser/MHH
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Eine MHH-Studie hat aufgedeckt, wie das Immunsystem bei dieser neuen Art der zerebellären Ataxie das Kleinhirn zerstört. Für diese schnell fortschreitende Kleinhirnentzündung scheint es einen Biomarker zu geben.

Die zerebelläre Ataxie ist eine neurologische Störung des Kleinhirns. Dieses wichtige Areal im hinteren Teil des Gehirns koordiniert sozusagen als Dirigent unsere Bewegungen und hält uns im Gleichgewicht. Bei der zerebellären Ataxie ist diese Fähigkeit beeinträchtigt. Betroffene Menschen können Schwierigkeiten beim Gehen, Sprechen und Greifen oder auch bei kontrollierten Augenbewegungen haben. Teils beginnt die Schädigung schleichend und entwickelt sich über Jahre hinweg. Sie kann verschiedene Ursachen haben, die häufig genetisch bedingt sind. Aber auch Schlaganfälle oder Tumoren können Auslöser sein. Ein Forschungsteam um Professor Dr. Kurt-Wolfram Sühs, Oberarzt an der Klinik für Neurologie mit Klinischer Neurophysiologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), hat nun eine neue Art der zerebellären Ataxie entdeckt. Diese wird durch einen bestimmten Autoantikörper hervorgerufen und verläuft im Gegensatz zu den bisher bekannten Untergruppen sehr schnell.

Substanzverlust im MRT nachgewiesen

Der Autoantikörper (Anti-DAGLA) richtet sich gegen Kleinhirnzellen und führt so zu einer schweren Entzündung mit den entsprechenden Symptomen. Die Forschenden entdeckten ihn im Nervenwasser von vier Betroffenen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren, die unter ausgeprägten Gang-, Sprach- und Sehstörungen litten. Untersuchungen im Magnetresonanztomografen (MRT) zeigten einen deutlichen Substanzverlust des angegriffenen Kleinhirns. Nach einer Behandlung mit entzündungshemmenden Medikamenten und einer Immuntherapie mit dem Wirkstoff Rituximab, der seit einigen Jahren erfolgreich zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen eingesetzt wird, besserte sich der Gesundheitszustand bei drei der vier Betroffenen nachhaltig. Bei Rituximab handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper, der ein Protein namens CD20 auf der Oberfläche von B-Lymphozyten erkennt, daran bindet und so die Zelle abtötet. Die Ergebnisse der Studie, die in Zusammenarbeit mit weiteren Kliniken in Belgien, Deutschland, Luxemburg und Österreich entstanden ist, sind gerade erst veröffentlicht worden.

Verdacht auf einen Autoantikörper

„Die vier Betroffenen waren vor Ausbruch der Erkrankung selbstständig und gesund“, sagt Professor Sühs. Bei allen stellten die Neurologen eine sehr hohe Anzahl von Abwehrzellen im Nervenwasser fest, was eigentlich auf eine bakterielle oder virale Infektion hindeutet. Dafür sprach auch der schnelle Krankheitsverlauf – der 18-jährige Patient etwa zeigte innerhalb von zwei Wochen schwere Symptome, sah Doppelbilder und hatte deutliche Störungen im Bewegungsablauf. „Da wir aber weder Bakterien noch Viren nachweisen konnten, haben wir Blutserum und Nervenwasser in unserem MHH-eigenen Liquor-Labor untersuchen lassen“, ergänzt der Neurologe.

Dort ergab sich der Verdacht auf einen Autoantikörper, schließlich wurden im Rahmen der gemeinsamen Forschungsarbeit die Anti-DAGLA-Autoantikörper entdeckt, die für die Zerstörung der Nervenzellen im Kleinhirn verantwortlich waren. Einen der entscheidenden Beweise erbrachten die Forschenden, indem sie virale Genfähren mit dem Bauplan für das DAGLA-Protein beluden und in Zellkultur gaben. In den Zellen luden die Genfähren ihre Bauanleitung ab, die Zellen setzten sie um und produzierten das DAGLA-Protein auf ihrer Oberfläche. Dann wurden die Proben aus Nervenwasser und Blutserum der vier Betroffenen auf diese Zellkulturen gegeben. Das Ergebnis: Dort, wo die Zellen das Protein an ihrer Oberfläche gebildet hatten, dockte der Anti-DAGLA-Autoantikörper an, was sich in einem speziellen Färbemuster im Fluoreszenzmikroskop darstellen ließ.

Anti-DAGLA-Autoantikörper als Biomarker?

Diese indirekte Immunfluoreszenz genannte Methode gilt als Standardtechnik für den Nachweis von Autoantikörpern. Der Vergleich mit Proben aus Blutserum und Nervenwasser von Gesunden sowie von Patientinnen und Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen ergab dagegen entweder gar keine Bindungsaktivität, da keine Anti-DAGLA-Antikörper im Liquor vorhanden waren, oder aber ihre Antikörper dockten an einen anderen Bereich des DAGLA-Proteins an. „Das bedeutet, dass der von uns entdeckte Anti-DAGLA-Autoantikörper hochspezifisch bindet und sich daher als Biomarker für diese Form der zerebellären Ataxie eignet“, erklärt Professor Sühs.

Zeit spielt eine entscheidende Rolle

„Bis zur Etablierung der Tests in der Routine könnte es allerdings schwierig werden, diese beiden Gruppen von Anti-DAGLA-Autoantikörpern zu unterscheiden“, vermutet Professor Sühs. Er empfiehlt daher für die Diagnostik nur solche Anti-DAGLA-Autoantikörper als Marker für eine neue Form der progressiven Kleinhirnentzündung zu betrachten, die bei entsprechenden Krankheitszeichen im Nervenwasser nachgewiesen worden sind. „Der frühzeitige Nachweis von Anti-DAGLA-Autoantikörpern im Liquor kann allerdings für die Diagnose dieser schnell fortschreitenden Kleinhirnentzündung und die Einleitung einer sofortigen Behandlung entscheidend sein“, betont der Neurologe.

Da die Kohorte mit nur vier an dieser neuen Form Erkrankten sehr klein war, sind weitere Untersuchungen mit mehr Patientinnen und Patienten nötig, um die diagnostische Bedeutung von Anti-DAGLA-Autoantikörpern zu überprüfen und die Behandlungsempfehlungen zu optimieren. Unklar ist beispielsweise noch, ob die Autoantikörper an der Oberfläche andocken und welche molekularen Mechanismen sie damit auslösen – ob sie das Protein selbst stilllegen oder sie durch die Verbindung ein Signal an andere Immunzellen geben, die betroffene Kleinhirnzelle zu zerstören.

Zielgerichtete Therapie im Blick

„Bislang können wir die Autoimmunreaktion nur relativ ungezielt unterdrücken, indem wir beispielsweise per Blutwäsche die Autoantikörper aus dem Körper entfernen oder mit dem Wirkstoff Rituximab die B-Zellen des Immunsystems vernichten, die nach Ausreifung für die Bildung der Autoantikörper zuständig sind“, stellt Professor Sühs fest. Das Ziel sei es, eine Therapie zu entwickeln, die sich nur gegen die krankmachenden Zellen der Immunabwehr richtet, die tatsächlich die Anti-DAGLA-Autoantikörper bilden und die Kleinhirnzellen zerstören.

Literatur:
Miske R, Scharf M, Borowski K, et al.: Identification of DAGLA as an autoantibody target in cerebellar ataxia. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2024 Apr 25:jnnp-2024-333458, DOI: 10.1136/jnnp-2024-333458.

Quelle: idw/MHH

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