Kaspar Hauser war zu 99,9994 Prozent kein Prinz
Die Identität und die Herkunft Kaspar Hausers sind seit fast 200 Jahren Gegenstand von Forschung und Diskussion. Neben der Meinung, er sei lediglich ein mehr oder weniger pathologischer Lügner und Betrüger gewesen, ist die langlebigste Theorie diejenige, er wäre der am 29. September 1812 geborene badische Erbprinz, der im Alter von nur 18 Tagen und noch vor Namensgebung starb.
In einer aktuellen Forschungsarbeit an der Walther Parson vom Institut für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck federführend beteiligt ist, werden nun neue DNA-Analysen vorgestellt, die eine langjährige Kontroverse um die Herkunft Kaspar Hausers auflösen. In diesen Analysen, 2019 in Innsbruck und 2020/21 in Potsdam durchgeführt, wurden neue und erheblich empfindlichere Methoden eingesetzt, welche die Ergebnisse von 1996 bestätigen.
Frühere und aktuelle DNA-Analysen
Durch die Einbeziehung unterschiedlicher Proben, die identische Ergebnisse erbrachten, konnten die Wissenschaftler — im Unterschied zu 1996 — die Authentizität der untersuchten Proben und ihre Zugehörigkeit zu Kaspar Hauser nachweisen und das mit einem Sicherheitslevel von 99,9994 Prozent. „Die nunmehr gesicherte mitochondriale DNA-Sequenz von Kaspar Hauser (Mitotyp W) weicht deutlich von der ,badischen‘ Abstammungslinie ab (Mitotyp H1bs), was eine mütterliche Verwandtschaft zum Haus Baden und damit die weit verbreitete Prinzentheorie ausschließt“, erklärt der Innsbrucker Experte für forensische Genomik. Die Autoren betonen allerdings, dass dieses Ergebnis nicht als ein Beleg für die konkurrierende Betrügertheorie missverstanden werden sollte. Denn auch wenn Kaspar Hauser kein badischer Prinz war, könnte er dennoch Opfer verschiedener Verbrechen gewesen sein.
Von deutschen Medienhäusern initiiert wurden bereits in den Jahren 1996 in München und Birmingham und 2001/02 in Münster, Proben, die Kaspar Hauser zugeordnet werden, untersucht. Allerdings kamen die Analysen, die zu den damaligen Zeitpunkten mit unterschiedlichen Methoden durchgeführt wurden, zu gegenteiligen Ergebnissen. Alle bisherigen DNA-Analysen zum Fall „Kaspar Hauser" sind jedoch auf die mitochondriale DNA (mtDNA) fokussiert, die so genannt wird, weil sie sich in den Mitochondrien befindet. Hierbei handelt es sich um Organellen, das sind winzige Strukturen innerhalb von Zellen, die auch als „Kraftwerke der Zelle" bezeichnet werden.
Im aktuellen Zusammenhang sind vor allem zwei Eigenschaften der mitochondrialen DNA relevant, durch die sie sich von der im Zellkern lokalisierten Kern-DNA unterscheidet und bei einer historischen Fragestellung von großem Vorteil sein kann: „Erstens ist der Nachweis einer konkreten DNA-Sequenz gerade in alten Proben technisch einfacher, wenn sie in einer höheren Anzahl von Kopien vorliegt, wie es bei mtDNA der Fall ist. Zweitens ermöglicht es die rein mütterliche Vererbung der Mitochondrien, die mtDNA-Sequenz einer lang verstorbenen Person prinzipiell auch ohne historisches Probenmaterial zu ermitteln, indem man die mtDNA-Sequenz von lebenden Personen bestimmt, die in mütterlicher Linie mit der fraglichen verstorbenen Person verwandt sind“, erklärt Walther Parson.
Untersuchung von Haaren aus drei Locken
2019 wurde unter der Leitung Parsons die Untersuchung von Haaren aus drei Locken, die sich in Privatbesitz befinden und Kaspar Hauser zugeordnet werden, vorgenommen. In Innsbruck war zwei Jahre zuvor eine neue Methode etabliert worden, die als Primer Extension Capture Massively Parallel Sequencing (PEC MPS) bezeichnet wird und mit der auch minimale DNA-Spuren aus alten, stark degradierten Proben erfolgreich sequenziert werden können. Außerdem ist es anhand dieser Methode möglich, in alten Proben mittels PEC MPS anhand der Fragmentlänge Verunreinigungen durch jüngere DNA zu erkennen.
Die mtDNA-Sequenzen, die mittels PEC MPS in den drei Haarproben gefunden wurden, stimmen erstens untereinander überein und zweitens mit der mtDNA-Sequenz, die bereits 1996 in München und Birmingham aus dem Blut in einer Unterhose gewonnen worden war. Gegenüber der Analyse einer mtDNA-Sequenz, die 2001/02 in Münster in den Proben von Kaspar Hauser gefunden worden war, sowie gegenüber der mtDNA-Sequenz, die mittlerweile viermal bei lebenden Verwandten von Stéphanie de Beauharnais nachgewiesen wurde, liegen unüberbrückbare Abweichungen vor.
Starke Fragmentierung der alten mtDNA
Die offensichtliche Diskrepanz zwischen den Ergebnissen aus den Untersuchungen von 2019 und 2001/02, in denen teilweise Haare aus denselben „Originallocken" verwendet wurden, verlangt nach einer Erklärung: Diese liegt vor allem in der starken Fragmentierung der knapp zwei Jahrhunderte alten mtDNA. Tatsächlich liegt die durchschnittliche Fragmentlänge der alten mtDNA, die 2019 mit PEC MPS beobachtet wurde, unterhalb der „Zielgröße" der 2001/02 verwendeten PCR-basierten Sequenzierungsmethode.
Dadurch entging 2001/02 die nur spärlich vorhandene alte mtDNA von Kaspar Hauser dem Nachweis, und es kam jüngere, weniger fragmentierte Fremd-mtDNA zum Vorschein, die im untersuchten Umfang zwar derjenigen von Stéphanie de Beauharnais ähnelte, mit dem heutigen Wissen über die mtDNA aber eindeutig als Ausschluss einer Verwandtschaft zu bewerten ist.
Vierte DNA-Analyse bestätigt Innsbrucker Ergebnis
Die vierte und bisher letzte DNA-Analyse wurde 2021/2022 im Institut für Biochemie und Biologie der Universität Potsdam unter der Leitung von Michael Hofreiter und unter Mitwirkung der kanadisch-britischen Genetikerin Turi King von den Universitäten Leicester und Bath, durchgeführt. Untersucht wurde ein Haar aus einer Locke, die sowohl 2001/02 in Münster als auch 2019 in Innsbruck bereits Teil des Untersuchungsprogramms war, und es wurde mit Whole Genome Sequencing von einzelsträngigen mtDNA Bibliotheken eine Methode angewandt, die ähnlich empfindlich ist, wie die in Innsbruck eingesetzte PEC MPS. Das Ergebnis bestätigte zu 100 Prozent die mtDNA-Sequenz von 1996 und 2019 (Mitotyp W).
Durch die Einbeziehung unterschiedlicher Proben, die unabhängig voneinander und in verschiedenen Laboren untersucht wurden und übereinstimmende Ergebnisse erbrachten, konnte nun erstmals — und im Unterschied zu 1996 — die Authentizität der untersuchten Proben und ihre Zugehörigkeit zu Kaspar Hauser nachgewiesen werden. Das Sicherheitslevel für diesen Nachweis wird mit 99,9994 Prozent angegeben, und die gefundene Sequenz schließt eine mütterliche Verwandtschaft mit Stéphanie de Beauharnais aus, womit die klassische Prinzentheorie widerlegt ist.
Kein Nachweis für Tiroler Herkunft Hausers
Die Autoren stellen jedoch auch fest, dass es nicht möglich ist, aus der mtDNA-Sequenz von Kaspar Hauser spezifische Informationen über seine exakte geografische Herkunft abzuleiten Die Behauptung, des Karlsruher Neurologen Günter Hesse in seinem Buch von 2018, er habe durch den Vergleich der mtDNA von Kaspar Hauser mit der mtDNA von ein oder zwei zufällig ausgewählten Tirolerinnen eine Herkunft aus Tirol nachgewiesen, beruht nicht auf anerkannten wissenschaftlichen Fakten und Konzepten.
„Der Mitotyp W, der in den Proben von Kaspar Hauser zwischen 1996 und 2022 gefunden wurde, ist zwar relativ selten (circa 0,2 Prozent der Bevölkerung), wird aber dennoch von vielen Menschen in ganz Europa geteilt. Es ist daher nicht möglich, Kaspar Hausers Herkunft allein auf Grundlage seiner mtDNA-Sequenz auf eine bestimmte Region, wie etwa Tirol einzugrenzen“, erklärt der Innsbrucker Experte Parson.
Tatsächlich sind Identität und Herkunft Kaspar Hausers nach wie vor unklar, denn es konnte durch die Analyse der mitochondrialen DNA lediglich die populärste Theorie ausgeschlossen werden. „Um seiner tatsächlichen Identität näherzukommen, wären Analysen der Kern-DNA sehr wünschenswert, was jedoch nicht anhand seiner Haarproben, sondern nur mit Proben von Blut oder Knochen möglich ist“, sagt Parson.
Einen Bericht mit detaillierten Ausführungen zur Prinzentheorie und vorangehenden Untersuchungen finden Sie hier.
Quelle: idw
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