Das menschliche Gehirn besteht aus einem hochkomplexen Netzwerk von etwa 85 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die ständig Informationen untereinander austauschen. Damit das komplexe Netzwerk effizient arbeiten kann, ist es wichtig, dass die Wege zwischen Neuronen, die ähnliche Eigenschaften haben oder vergleichbare Signale kodieren, möglichst kurz bleiben. Im Sehsystem des Menschen und bei vielen Säugetierarten gruppieren Nervenzellen, die auf ähnlich orientierte Streifenmuster bevorzugt reagieren, sich tatsächlich zusammen.
Warum ist die Struktur so unterschiedlich?
Interessanterweise kann man solch eine stark geordnete Struktur bei Nagern nicht wiederfinden. Mit zwei Computermodellen haben nun Wissenschaftler des Frankfurt Institute for Advanced Studies, des Max Planck Institutes für Hirnforschung und des Ernst-Strüngmann-Instituts untersucht, warum die Struktur bei den Tierarten so unterschiedlich ist. Erstaunlicherweise fanden die Wissenschaftler, dass die Struktur neuronaler Karten nicht nur durch das Verschaltungsmuster, sondern auch durch die Gesamtanzahl der Nervenzellen bestimmt wird.
Kurze Wege führen zu Effizienz
In unserem Gehirn gibt es abgrenzbare Regionen, die für verschiedene Aufgaben zuständig sind. Innerhalb dieser Regionen liegen Nervenzellen – Neuronen -, die ähnliche Aufgaben haben, sogar auch räumlich benachbart zueinander. Zwischen diesen Neuronen gibt es besonders viele Verbindungen, die die Kommunikation zwischen den Zellen ermöglichen. Befinden sich nun ähnliche Zellen in enger Nachbarschaft, spart das Wege – unser Gehirn wird schneller und effektiver. Ein prominentes Beispiel für solche neuronalen Karten ist die Anordnung von Nervenzellen mit ähnlichen Orientierungspräferenzen. Diese Nervenzellen liegen im Sehsystem des Gehirns und erkennen, welche Orientierung einzelne Objekte im Bereich unseres Blickfelds besitzen (vertikal, horizontal, diagonal, et cetera). Die farbige Visualisierung dieser Orientierungspräferenzen auf der Oberfläche des Gehirns führt zu Mustern, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu Windrädern als „Pinwheels“ bezeichnet werden. Interessanterweise existieren diese „Pinwheels“ bei vielen verschiedenen Säugetierarten, aber nicht bei Nagern, die stattdessen eine unstrukturierte neuronale Karte besitzen.
Verschaltungsmuster von Nagern unterschiedlich?
Neurowissenschaftler haben deshalb lange spekuliert, ob sich das Verschaltungsmuster von Nagern von dem Muster anderer Säugetiere unterscheidet. Die Frankfurter Forschergruppe um Dr. Hermann Cuntz hat jetzt mit zwei von Grund auf verschiedenen Modellen gezeigt, dass die Struktur neuronaler Karten neben dem Verschaltungsmuster auch durch die Anzahl der Nervenzellen bestimmt ist. Damit ergibt sich eine einfache Begründung für die verschiedenen Strukturen. Verglichen mit anderen Säugetierarten besitzen Nager, wie zum Beispiel Mäuse oder Ratten, aufgrund ihrer Körpergröße und der verhältnismäßig geringen Dichte von Nervenzellen auch eine deutlich geringere absolute Anzahl von Nervenzellen.
Übergang zu strukturierter neuronaler Karte
In der Tat zeigen die Modelle, dass es mit größer werdender Zellzahl zu einem Übergang von einer unstrukturierten zu einer strukturierten neuronalen Karte kommt. Neben einem schnellen Übergang von einer unstrukturierten zu einer strukturierten neuronalen Karte kommt es auch zu einer graduellen Erhöhung der Strukturiertheit mit steigender Neuronenanzahl. So zeigen Frettchen oder Spitzhörnchen eine geringere Strukturiertheit der neuronalen Karte im visuellen Kortex als nah verwandte Spezies mit mehr Neuronen im visuellen System. „Der scheinbare Unterschied in den neuronalen Karten des Sehsystems von Nagern könnte also allein durch die kleinere Zahl von Nervenzellen in den untersuchten Spezies bedingt sein – einen Unterschied im Verschaltungsmuster gäbe es demnach nicht unbedingt“, erklärt Erstautor Marvin Weigand.
Zwei Modelle benutzt
Um die Abhängigkeit der Strukturiertheit neuronaler Karten von der Interkonnektivität – also der Anzahl pro relevanter Verbindungen pro Neuron – zu zeigen, hat die Forschergruppe zwei Modelle aus anderen Wissenschaftsbereichen für ihre Zwecke umgewandelt. Das erste Modell basiert hauptsächlich auf multidimensionaler Skalierung. Diese numerische Methode sortiert Objekte räumlich nach ihrer Ähnlichkeit, in diesem Fall die Ähnlichkeit der Verschaltung von Nervenzellen. Zusätzlich haben die Frankfurter Wissenschaftler das XY Modell zur Untersuchung der Fragestellung modifiziert. Das ursprünglich aus der statistischen Physik kommende Modell wurde z.B. auch zur Untersuchung exotischer Materiezustände von David J. Thouless und J. Michael Kosterlitz eingesetzt, die hierfür den letztjährigen Nobelpreis für Physik erhalten haben.
Pinwheels bei Capybaras?
Die Vorhersagen der Modelle gelten übrigens allgemein für alle möglichen neuronalen Karten und könnten es erlauben, das Verhältnis zwischen Neuronenanzahl und der Anzahl kodierter Eigenschaften im Gehirn besser zu verstehen. In der Zwischenzeit schlagen die Forscher vor, dass „Pinwheels“ in den allergrößten Nagetieren existieren könnten. Die größten Nager sind die in Südamerika beheimateten Capybaras. Es ist also an der Zeit, sich die Gehirnstruktur dieser riesigen Wasserschweine einmal genauer anzuschauen. (idw, red)
Marvin Weigand, Fabio Sartori, and Hermann Cuntz: Universal transition from unstructured to structured neural maps. PNAS, 2017, DOI: 10.1073/pnas.1616163114.
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