Familiäre Hypercholesterinämie bei Kindern: Gezieltes Screening empfohlen
Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) den Nutzen eines generellen laboranalytischen Lipidscreenings zur Früherkennung familiärer Hypercholesterinämie bei Kindern und Jugendlichen untersucht. Auf Basis der vorliegenden Studien kann kein Nutzen eines allgemeinen Screenings aller Kinder und Jugendlichen abgeleitet werden.
Allerdings zeigen die vorliegenden Daten, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, Kinder und Jugendliche mit familiärer Hypercholesterinämie und hohem Risiko für frühzeitige Herzinfarkte und Schlaganfälle zu identifizieren. Denn eine rechtzeitige Behandlung mit lipidsenkenden Statinen verringert das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in dieser besonders gefährdeten Gruppe. Daher empfiehlt das IQWiG, über die Einführung eines Kaskadenscreenings zu beraten. Ein solches Kaskadenscreening geht von Familienmitgliedern (insbesondere Eltern) aus, bei denen nach einem kardiovaskulären Ereignis oder im Rahmen von Gesundheitsuntersuchungen eine familiäre Hypercholesterinämie diagnostiziert wurde.
Familiäre Hypercholesterinämie: Eine erblich bedingte Stoffwechselstörung
Die familiäre Hypercholesterinämie ist eine erblich bedingte, angeborene Fettstoffwechselstörung. Die betroffenen Personen haben bereits in der Kindheit erhöhte LDL-Cholesterin-Konzentrationen im Blut. Menschen mit einer familiären Hypercholesterinämie haben ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle, teilweise schon im jungen Erwachsenenalter.
Um das Risiko von kardiovaskulären Ereignissen zu verringern beziehungsweise hinauszuzögern, können Kinder und Jugendliche mit bekannter familiärer Hypercholesterinämie bereits frühzeitig mit Statinen, also mit lipidsenkenden Medikamenten, behandelt werden. Ein einheitliches Vorgehen zur Identifikation betroffener Kinder und Jugendlicher existiert in Deutschland aktuell nicht. Gesetzlich Krankenversicherte haben zwar ab 18 Jahren bei entsprechendem Risikoprofil, zum Beispiel einer positiven Familienanamnese, Anspruch auf ein Lipidprofil inklusive Bestimmung des LDL-Cholesterins. Derzeit wird jedoch die Einführung eines Screenings mittels einer Laboruntersuchung des Cholesterins bereits in jüngeren Jahren diskutiert, und zwar generell, also bei allen Kindern und Jugendlichen.
Niederländische Studie
Ziel eines generellen Screenings auf familiäre Hypercholesterinämie ist die frühere Identifikation und dann auch Behandlung von betroffenen Kindern. Das IQWiG hat bei seiner weltweiten Recherche keine Studien gefunden, die ein solches Screening mit anschließender Behandlung bei allen Kindern und Jugendlichen untersuchten. Daher hat es nach Studien zur Vorverlagerung einer lipidsenkenden Therapie gesucht. Zu der Frage, welchen Effekt eine frühe Gabe von Statinen tatsächlich hat, liegt die Studie einer niederländischen Arbeitsgruppe um Ilse Luirink vor.
In der 2019 veröffentlichten Luirink-Studie erhielten 214 Personen mit familiärer Hypercholesterinämie bereits ab durchschnittlich 14 Jahren Statine. 20 Jahre später war nur bei einer Person dieser Gruppe ein kardiovaskuläres Ereignis aufgetreten. Anders die Situation bei den Eltern dieser früh behandelten Kinder, bei denen zuvor ebenfalls eine familiäre Hypercholesterinämie diagnostiziert worden war: In dieser zeitlich versetzten Kontrollgruppe hatte etwa ein Viertel bis Ende 30 bereits einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitten. Die 156 Mütter und Väter konnten vor ihrem 35. Lebensjahr keine Statine erhalten haben, weil diese erst seit 1988 verfügbar sind.
„Bemerkenswert ist, dass die Kinder trotz Statinbehandlung nicht die in manchen Leitlinien empfohlenen LDL-Cholesterin-Zielwerte erreichten – und dennoch ohne kardiovaskuläres Ereignis blieben“, sagt Stefan Sauerland, Leiter des IQWiG Ressorts Nichtmedikamentöse Verfahren. „Somit stützen die Ergebnisse der Luirink-Studie für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen nicht den Je-niedriger-desto-besser-Ansatz, der teilweise propagiert wird, sondern legen nahe, dass eine feste mittlere Dosis eines Statins als Standardtherapie für die kardiovaskuläre Protektion ausreicht.“
Allerdings sei zu bedenken, dass sich die Ergebnisse der Luirink-Studie nicht ohne zusätzliche Evidenz auf die Gesamtheit aller Kinder und Jugendlichen mit familiärer Hypercholesterinämie übertragen lassen, betont Sauerland und verweist darauf, dass die Probandinnen und Probanden eine selektierte Gruppe seien: „Es handelt sich um Kinder, die über ein Kaskadenscreening identifiziert wurden und von deren Eltern bereits ein erheblicher Teil ein kardiovaskuläres Ereignis hatte.“
Das Kaskadenscreening als Alternative zum generellen Screening
„Die Alternative zu einem generellen Lipidscreening im Kindes- oder Jugendalter besteht aber nicht allein darin, kein Screening für diese Altersgruppe anzubieten“, erläutert Michaela Eikermann, stellvertretende Leiterin des IQWiG. In Deutschland gebe es mit den Gesundheitsuntersuchungen bereits eine allgemein verfügbare Möglichkeit, auch schon junge Erwachsene mit familiärer Hypercholesterinämie zu identifizieren. „Hierüber sowie über bereits bekannte Erkrankungen könnten weitere betroffene Familienmitglieder gefunden und behandelt werden – insbesondere Kinder und Jugendliche.“
Dieser Ansatz, der als Kaskadenscreening bezeichnet wird, bietet im Vergleich zu einem generellen Screening den Vorteil, dass insbesondere schwerer verlaufende Subtypen der familiären Hypercholesterinämie identifiziert werden. Denn Personen, deren Familienangehörige von einer besonders frühen oder besonders schweren Symptomatik betroffen sind, erhalten eher medizinische Versorgung und sind daher einem Kaskadenscreening ohne zusätzliche Einladung zielgerichtet zugänglich. In ähnlicher Weise wäre auch die Therapie – auch dank erwartbar höherer Adhärenz – auf die besonders therapiebedürftigen Personen konzentriert.
„Die Identifikation von Kindern und Jugendlichen mit familiärer Hypercholesterinämie und einem hohen Risiko für einen Herzinfarkt ist sinnvoll, da eine frühzeitige Statintherapie das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse reduzieren kann“, resümiert IQWiG-Leiter Thomas Kaiser. „Wir schlagen deshalb vor, über die Einführung eines Kaskadenscreenings zu beraten, das bei betroffenen Familienmitgliedern, insbesondere den Eltern, beginnt.
Dieser Ansatz sei bei den in der Luirink-Studie untersuchten Kindern erfolgreich gewesen. „Dabei sollte die Einführung eines Kaskadenscreenings unbedingt von einer zielgerichteten, pragmatischen und kosteneffizienten Evaluation begleitet werden.“ Teil dieser Evaluation müsse auch eine versorgungsnahe vergleichende Studie sein, die die noch offene Forschungsfrage eines optimalen Zeitpunkts für den Beginn einer Statintherapie adressiert.
Der vorliegende Rapid Report skizziert erste Überlegungen zu einer Begleitevaluation.
Quelle: IQWiG
Artikel teilen