Seltene genetische Erkrankungen ließen sich demnach teils am Gesicht erkennen, etwa weil Brauen, Nase oder Wangen charakteristisch geformt sind. Die verbesserte Version des KI-Systems „GestaltMatcher“ könne nun auch Erkrankungen erkennen, die ihr noch nicht bekannt seien, so die Wissenschaftler. Außerdem komme sie für die Diagnose bekannter Erkrankungen mit sehr geringen Patientenzahlen aus.
Diagnose-Odyssee abkürzen?
Viele Betroffene seltener Erkrankungen durchlaufen eine Odyssee, bis die richtige Diagnose gestellt wird. „Ziel ist, solche Krankheiten frühzeitig zu erkennen und baldmöglich eine geeignete Therapie einzuleiten“, sagt Prof. Dr. Peter Krawitz vom Institut für Genomische Statistik und Bioinformatik (IGSB) am Universitätsklinikum Bonn. Der Wissenschaftler ist Mitglied im Exzellenzcluster ImmunoSensation2 und im Transdisziplinären Forschungsbereich „Modelling“ der Universität Bonn.
Charakteristische Merkmale im Gesicht
Die Mehrzahl der seltenen Erkrankungen ist genetisch verursacht. Die zugrundeliegenden Erbgutveränderungen führen häufig zu mehr oder minder schweren Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Bereichen des Körpers. Diese Erbgutveränderungen könnten sich auch an charakteristischen Merkmalen im Gesicht zeigen, etwa weil Augenbrauen, Nasenansatz oder die Wangen charakteristisch geformt seien, betonen die Forscher. Das sei aber von Erkrankung zu Erkrankung verschieden. Diese Gesichts-Charakteristiken nutzt die künstliche Intelligenz (KI), berechnet die Ähnlichkeiten und verknüpft sie automatisch mit klinischen Symptomen und Erbgutdaten von Patientinnen und Patienten. „Das Gesicht dient uns dabei als Anhaltspunkt für die Diagnose“, sagt Tzung-Chien Hsieh aus Krawitz Team. „Mit hoher Treffsicherheit lässt sich berechnen, um welche Erkrankung es sich handelt.“
Nur wenige Patienten zur Diagnose benötigt
Das KI-System „GestaltMatcher“, das in der aktuellen Studie beschrieben wird, ist eine Weiterentwicklung von „DeepGestalt“, das das IGSB-Team mit weiteren Institutionen vor einigen Jahren trainiert hat. Während DeepGestalt noch etwa zehn nicht-verwandte Betroffene als Referenz zum Trainieren erforderte, komme der Nachfolger „GestaltMatcher” mit deutlich weniger Patientinnen und Patienten für den Merkmalsabgleich aus. Dies sei ein großer Vorteil bei der Gruppe sehr seltener Erkrankungen, bei denen nur wenige Patientinnen und Patienten weltweit berichtet sind, erläutern die Wissenschaftler. Darüber hinaus berücksichtige das neue KI-System auch Ähnlichkeiten mit Patientinnen und Patienten, bei denen ebenfalls bisher keine Diagnose gestellt wurde, und damit bislang noch nicht beschriebene Merkmalskombinationen. GestaltMatcher „erkenne” also auch ihm bislang unbekannte Erkrankungen und schlage darauf basierend Diagnosen vor. „Damit können wir nun auch bislang unbekannte Erkrankungen einordnen, auf die Suche nach weiteren Fällen gehen und Hinweise für die molekularen Grundlagen liefern”, sagt Krawitz.
Nutzung von 17.560 Patientenfotos
Das Team nutzte 17.560 Patientenfotos, die überwiegend von dem digitalen Gesundheits-Unternehmen FDNA stammen, mit dem das Forschungsteam zusammenarbeitete und das den Web Service entwickelte, über den die KI genutzt werden kann. Rund 5.000 der Fotos und Patientendaten hat das Forschungsteam des Instituts für Humangenetik der Universität Bonn mit weiteren neun Universitätsstandorten im In- und Ausland beigesteuert. Die Forscher fokussierten sich dabei auf möglichst unterschiedliche Krankheitsbilder. Sie konnten insgesamt 1.115 verschiedene seltene Erkrankungen berücksichtigen. „Diese große Unterschiedlichkeit im Erscheinungsbild trainierte die KI so gut, dass wir nun auch bestenfalls mit nur zwei Patienten als Grundlage eine relative sichere Diagnose stellen können, wenn dies möglich ist”, sagt Krawitz.
Anwendung in Arztpraxen?
„Wir freuen uns, dass wir endlich eine Lösung für die Phänotyp-Analyse sehr seltener Erkrankungen haben, die Klinikern helfen kann, schwierige Fälle zu lösen und die Forschung voranzubringen”, sagt Aviram Bar-Haim von der FDNA Inc. in Boston (USA). Auch in Deutschland sei die Anwendung zum Beispiel in Arztpraxen nicht mehr fern, ergänzt Krawitz. Der Arzt könne schon jetzt mit seinem Smartphone ein Porträtfoto eines Patienten aufnehmen und über die KI Differenzialdiagnosen erstellen. „GestaltMatcher hilft dem Arzt bei der Beurteilung und ergänzt die Expertenmeinung.”
Nicht gewinnorientierter Zugang ermöglicht
Peter Krawitz und sein Team haben die selbst gesammelten Daten der gemeinnützigen Arbeitsgemeinschaft für Gendiagnostik, AGD e.V., übergeben, um Wissenschaftlern einen nicht gewinnorientierten Zugang zu ermöglichen. “Die GestaltMatcher Datenbank (GMDB) wird die Vergleichbarkeit von Algorithmen verbessern und die Grundlage zur Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz für seltene Erkrankungen schaffen – auch für andere medizinische Bilddaten wie etwa Röntgenaufnahmen oder Netzhautaufnahmen aus der Augenheilkunde”, sagt Krawitz.
Quelle: idw/Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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