Über das Geburtsdatum von Marie Jean-Pierre Flourens liegen unterschiedliche Angaben im Datenmaterial vor. So wurde er entweder am 13. April 1794 oder am 15. April 1794 in Béziers (Frankreich) als ältestes von zwei Kindern geboren. Sein Vater Pierre Flourens war mit Marie Françoise Alingry verheiratet. Über seine Jugend ist wenig bekannt. Als französischer Arzt erlangte Flourens Bekanntheit durch seine Studien über die Physiologie des Gehirns. Berühmt machten ihn seine verschiedenen bedeutenden Entdeckungen im Zusammenhang mit dem Nervensystem, Hirnlokalisation und Hirnfunktionen.
Marie Jean-Pierre Flourens’ intellektuelle Begabung zeigte sich schon in sehr jungen Jahren. So war Flourens bereits im Alter von 15 Jahren Student an der berühmten Fakultät für Medizin in Montpellier und erhielt seinen medizinischen Abschluss mit der Promotion 1813 im Alter von nur 19 Jahren. Anschließend beschäftigte er sich mit Fragen der Naturgeschichte. 1814 ging Flourens mit einem Empfehlungsschreiben versehen nach Paris, welches an Jean-Baptiste de Lamarck, Étienne Geoffroy Saint-Hilaire und Antoine Portal adressiert war. Dort wurde Flourens Protegé des Paläontologen Georges Cuvier, welcher ihn in den Kreis der intellektuellen Elite der Stadt Paris einführte. Unter dem Einfluss von Georges Cuvier wurde Flourens zu einem der größten wissenschaftlichen Gegner der Phrenologie Franz Joseph Galls. Die Phrenologie versuchte, geistige Eigenschaften und Zustände bestimmten, klar abgegrenzten Hirnarealen zuzuordnen unter Annahme eines Zusammenhangs zwischen Schädel- und Gehirnform einerseits und dem Charakter und Geistesgaben andererseits.
Flourens stellte die Auffassung Galls mit seinen eigenen Forschungsergebnissen infrage, er gilt als Pionier der modernen Theorie der Gehirnfunktion. Laut Flourens wirkt das Gehirn nur als funktionelle Einheit, obwohl spezifische Funktionen durch bestimmte Teile des Gehirns gesteuert werden. Flourens’ Annahmen basieren auf seinen Forschungsergebnissen anhand von Tierversuchen zur Lokalisation von Gehirnleistungen. Er zeigte als erster die allgemeinen Funktionen der wichtigsten Teile des Wirbeltiergehirns. Flourens führte eine Reihe von Experimenten durch, um physiologische Veränderungen bei Tauben nach Entfernung bestimmter Teile ihres Gehirns zu bestimmen. So fand er heraus, dass die Entfernung der Gehirnhälften an der Vorderseite des Gehirns einen Verlust des Willens, des Urteilsvermögens und aller anderen Sinne der Wahrnehmung verursachte. Die Entfernung des Kleinhirns hatte eine Störung der Muskelkoordination des Tieres und des Gleichgewichtssinns zur Folge. Die Entfernung der Medulla oblongata an der Rückseite des Gehirns führte zum Tod des Tieres. Aus diesen Versuchen schlussfolgerte Flourens, dass die Hemisphären für höhere psychische und intellektuelle Fähigkeiten verantwortlich sind und das Kleinhirn für die Regulierung aller Bewegungen. Die Medulla oblongata steuert lebenswichtige Funktionen (vor allem die Atmung).
Ebenfalls als Erster entdeckte Flourens, dass die Bogengänge des Innenohrs zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und der Körperkoordination (Statik) dienen und nicht dem Richtungshören zugeordnet sind. Im Rahmen seiner Forschungen in Bezug auf vestibuläre und otologische Erkrankungen machte er die ersten experimentellen Beobachtungen zur Funktion des vestibulären Labyrinths. Nach der Durchtrennung der Nervenfasern der Bogengänge bei Tauben fand er anomale Kopfbewegungen, das Hören der Tiere war jedoch nicht betroffen. Flourens folgerte daraus, dass die Bogengänge an der Aufrechterhaltung der Körperhaltung und des Gleichgewichts beteiligt sind, da er vermutete, dass eine Läsion in den Bogengängen für die zuvor beschriebene vestibuläre Symptomatik verantwortlich ist.
Abgesehen von seinen neurophysiologischen Untersuchungen beschrieb Flourens die betäubenden Eigenschaften von Chloroform und Ethylchlorid (Chloräthyl, Chlorethan). 1824 fasste Flourens seine Hirnstudien in dem Werk „Recherches expérimentales sur les propriétés et les fonctions du système nerveux dans les animaux vertébrés“ („Experimentelle Untersuchungen über die Eigenschaften und Funktionen des Nervensystems in Wirbeltieren“) zusammen.
1828 wurde Flourens in die Académie des sciences aufgenommen. Im gleichen Jahr wurde er stellvertretender Professor am Col-lège de France, 1830 Professor an der Musée d’ Histoire Naturelle und 1835 wurde er Foreign Member (ausländisches Mitglied) der Royal Society. Am 17. Januar 1836 heiratete Flourens Aline Adolphine Gabrielle Clément d’Aerzen, mit der er drei Kinder (Gustave Flourens, Léopold Émile Flourens und Pierre Abel Flourens) hatte. 1837 begann er eine politische Karriere als Mitglied der Abgeordnetenkammer, 1841 wurde Flourens Mitglied der Leopoldina und 1846 Mitglied der Pairskammer (Chambre des Pairs; Oberhaus des französischen Parlaments). Bei der Wahl zur Neubesetzung des 29. Sessels der Académie française konnte er sich im vierten Wahlgang gegen Victor Hugo durchsetzen. Flourens wurde auf Empfehlung Georges Cuviers zum ständigen Sekretär der Akademie der Wissenschaften ernannt. 1847 wendete Flourens seine Aufmerksamkeit der betäubenden Wirkung von Chloroform an Tieren zu und beschrieb die betäubende Wirkung des Chlorethans (Ether; veraltet: Äther). Flourens warnte eindringlich vor den mit der Ätheranwendung verbundenen Gefahren mit folgenden Worten: „Der Äther, der den Schmerz tötet, tötet auch das Leben und dieses neue Mittel, das die Chirurgie erobern wird, ist gleichermaßen großartig und furchtbar!“
Aufgrund der Revolution 1848 zog sich Flourens völlig aus dem politischen Leben zurück. Im Jahr 1855 nahm er die Professur für Naturgeschichte am Collège de France an. Pierre Flourens starb am 6. Dezember 1867 im Alter von 73 Jahren in Montgeron (Frankreich).
Literatur
1. Wikipedia (last accessed on 5. November 2014).
2. gw.geneanet.org (last accessed on 5. November 2014).
3. www.britannica.com (last accessed on 5 November 2014).
4. neuroportraits.eu (last accessed on 5. November 2014).
5. www.encyclopedia.com (last accessed on 5. November 2014).
6. Lexikon der Biologie (last accessed on 5. November 2014).
7. Goerig M, Schulte am Esch J: Die Anästhesie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Schüttler, J. (ed.): 50 Jahre Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag 2003; 27–65.
Entnommen aus MTA Dialog 1/2018
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