Antibiotika aus Steinzeit-Molekülen?

Alte Bakterien rekonstruiert
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Anhand von uralter DNA ist es den Biochemikern gelungen, Moleküle herzustelle
Anhand von uralter DNA ist es den Biochemikern gelungen, Moleküle herzustellen – die Paläofurane (hier in Pulverform). © Anna Schroll/Leibniz-HKI
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Wissenschaftler/-innen haben bis zu 100.000 Jahre alte mikrobielle Naturstoffe aus dem Zahnstein von Menschen und Neandertalern rekonstruiert. Nun soll damit nach neuen Wirkstoffen gesucht werden.

Durch die Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern verschiedenster Fachbereiche wie Archäologie, Bioinformatik und Chemie ist es gelungen, in Zehntausende Jahre alter, zerstückelter DNA das Genom einer Gruppe von bisher unbekannten Bakterien zu rekonstruieren und ein prähistorisches Molekül wiederherzustellen. Nun soll mithilfe der entwickelten bioinformatischen Methoden nach neuen Wirkstoffen gesucht werden.

Antibiotika von ausgestorbenen Bakterien?

Bakterien sind oft selbst eine der wichtigsten Quellen neuer Arzneimittel. Denn sie stellen eine Vielzahl Chemikalien her, sogenannte Naturstoffe – darunter auch Antibiotika und andere therapeutische Wirkstoffe. Bisher suchen Forscherinnen und Forscher aber nur in heute lebenden Bakterien danach. Da die Bakterien die Erde seit mehr als drei Milliarden Jahren besiedeln, gibt es die Vermutung, dass in mittlerweile ausgestorbenen Bakterien eine enorme Vielfalt an Naturstoffen mit therapeutischem Potenzial vorhanden sein könnte.

Paläofurane konnten hergestellt werden

Um diese Quelle zu erschließen, haben sich Forscherinnen und Forscher um den Chemiker Pierre Stallforth, Abteilungsleiter am Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie (Leibniz-HKI), und die Archäogenetikerin Christina Warinner, Associate Professor an der Harvard University und Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA), zusammengeschlossen. „Es ist uns erstmals gelungen, Substanzen neu herzustellen, die vor hunderttausend Jahren von Bakterien produziert wurden – die Paläofurane“, sagt Stallforth, der eine Professur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena innehat. Als Grundlage diente Bakterien-DNA: Diese enthält die Baupläne für Enzyme, die wiederum chemische Verbindungen zusammenbauen können. „Mit dieser Studie haben wir einen wichtigen Meilenstein erreicht, um die enorme genetische und chemische Vielfalt unserer mikrobiellen Vergangenheit aufzudecken“, ergänzt Warinner.

Mit neuen Methoden DNA-Fragmente wieder zusammensetzen

Normalerweise wird die DNA eines Organismus schnell abgebaut und zerfällt in eine Vielzahl winziger Bruchstücke, wenn er stirbt. Wissenschaftler/-innen können einige dieser DNA-Fragmente identifizieren, indem sie sie mit Datenbanken heutiger Organismen abgleichen. Doch ein Großteil der DNA gehört zu unbekannten, heute möglicherweise ausgestorbenen Mikroorganismen. Die jüngsten Fortschritte in der Informatik machen es jedoch möglich, die DNA-Fragmente wieder zusammenzusetzen – ähnlich wie die Teile eines Puzzles – um auch unbekannte Gene und Genome zu rekonstruieren. Bei den stark abgebauten, extrem kurzen DNA-Fragmenten aus der Steinzeit ist dies eine große Herausforderung: „Wir mussten unseren Ansatz völlig neu überdenken“, erklärt Alexander Hübner, Postdoktorand am MPI-EVA. Drei Jahre des Testens und Optimierens später, so Hübner, sie ein Durchbruch erzielt worden: Es sei gelungen, DNA-Abschnitte mit einer Länge von mehr als 100.000 Basenpaaren zu rekonstruieren und eine Vielzahl alter Gene und Genome wiederherzustellen. „Wir können jetzt beginnen, Milliarden unbekannter alter DNA-Fragmente systematisch in lange verschollene bakterielle Genome aus der Steinzeit einzuordnen.“

Nutzung von Neandertaler Zahnstein

Um an die DNA von steinzeitlichen Mikroorganismen zu gelangen, nutzte das Team Zahnstein von Neandertalern. Diese lebten vor circa 100.000 bis 40.000 Jahren. Daneben wurde noch Material von Menschen genutzt, die vor 30.000 bis 150 Jahren lebten. Zahnstein sei der einzige Bestandteil des Körpers, der im Laufe des Lebens versteinert und lebenden Zahnbelag in einen Friedhof mineralisierter Bakterien verwandele. Mithilfe modernster bioinformatischer Methoden rekonstruierten die Forscherinnen und Forscher daraus die Genome zahlreicher Bakterienarten. „Die große bioinformatische Herausforderung lag darin, Fehler in der abgebauten DNA zu beheben und Verunreinigungen zum Beispiel durch jüngere DNA auszuschließen“, sagt Anan Ibrahim, Postdoktorandin am Leibniz-HKI und ebenfalls Erstautorin der Studie.

Unbekanntes Mitglied der Gattung Chlorobium gefunden

Neben vielen Bakterien, die auch heute noch die menschliche Mundflora besiedeln, fand sie ein unbekanntes Mitglied der Gattung Chlorobium. Dessen stark geschädigte DNA wies alle Merkmale eines fortgeschrittenen Alters auf und wurde im Zahnstein von sieben steinzeitlichen Menschen und Neandertalern gefunden. Alle sieben Chlorobium-Genome enthielten ein Biosynthese-Gencluster – den Bauplan für Enzyme – mit unbekannter Funktion. Ein besonders gut erhaltenes Chlorobium-Genom wurde aus dem Zahnstein der etwa 19.000 Jahre alten „Roten Dame von El Mirón“, Spanien, rekonstruiert. Das Skelett wurde 2010 in einer spanischen Höhle gefunden. Es ist der älteste Beleg für eine Beisetzung in der Epoche des Magdalénien auf der Iberischen Halbinsel.

Was bewirken die alten Gene?

„Nachdem wir diese rätselhaften alten Gene entdeckt hatten, wollten wir herauszufinden, was sie bewirken“, sagt Ibrahim. Mit modernsten biotechnologischen Methoden gelang es den Forscherinnen und Forschern, die Gene in lebende Bakterien einzubauen, die daraus tatsächlich funktionale Enzyme bildeten. Damit sind sie die ersten, die diesen Ansatz erfolgreich auf Zehntausende Jahre alte Bakterien-DNA anwendeten. Die reaktivierten Enzyme produzieren wiederum eine neue Familie mikrobieller Naturstoffe, die die Wissenschaftler/-innen „Paläofurane“ genannt haben.

Paläobiotechnologie für die Suche nach neuen Antibiotika?

„Das ist der erste Schritt, um die verborgene chemische Vielfalt der Mikroben der Erdgeschichte zu erschließen“, sagt Martin Klapper, Postdoktorand am Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie und ein weiterer Erstautor der Studie. Dieser Erfolg ist das direkte Ergebnis einer einzigartigen Zusammenarbeit von Forschenden aus Archäologie, Bioinformatik, Molekularbiologie und Chemie, die technologische und disziplinäre Barrieren überwinden und wissenschaftliches Neuland betreten wollten. „Mit der Förderung durch die Werner Siemens-Stiftung wollen wir eine Brücke zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften schlagen. Sie hat uns den Aufbau des neuen Forschungsbereichs Paläobiotechnologie ermöglicht“, sagt Pierre Stallforth. Und Christina Warinner ergänzt: „So konnten wir Technologien entwickeln, um Moleküle neu entstehen zu lassen, die bereits vor hunderttausend Jahren produziert wurden.“ Für die Zukunft hofft das Team, diese Herangehensweise zur Suche nach neuen Antibiotika einsetzen zu können.

Zusammenfassung:
  • Zahnstein eignet sich für die Suche nach alten mikrobiellen Naturstoffen.
  • Es wurde Zahnstein von Menschen und Neandertalern untersucht.
  • Mit neuen Methoden wurden DNA-Fragmente wieder zusammengesetzt.
  • Es wurde ein unbekanntes Mitglied der Gattung Chlorobium gefunden.
  • Die Paläobiotechnologie könnte für die Suche nach neuen Antibiotika genutzt werden.

Literatur:
Martin Klapper M, et al.: Natural products from reconstructed bacterial genomes of the Middle and Upper Paleolithic. Science0, eadf5300, DOI: 10.1126/science.adf5300.

Quelle: Werner Siemens Stiftung, Leibniz HKI, MPI VA

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