In Deutschland sind rund 230.000 Menschen von MS betroffen. Zellen des Immunsystems greifen fälschlicherweise die körpereigenen Nervenzellen des Gehirns und des Rückenmarks an, wo es zu Entzündungsherden kommt. Die Krankheit verläuft schubförmig und führt mit der Zeit häufig zu einer zunehmenden Behinderung. Auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) beschreibt PD Dr. Harald Prüß, Neuroimmunologe an der Charité, das Potenzial für den vermehrten Einsatz der Stammzellentransplantation.
Herkömmliche Therapien ohne Progressionshemmung
Verlaufsmodifizierte Therapien können die Zeit zwischen den Schüben verlängern und Schwere der Schübe abmildern. Allerdings führen auch die bisherigen Therapien, die Schübe verhindern, nicht zu einer langfristigen Progressionshemmung. Eine Studie des 14-Jahres-Follow-ups der UCSF-MS-EPIC-Kohorte fand heraus, dass bei einem Drittel der Patienten mit schubförmiger MS der Behinderungsgrad trotz erfolgreicher Schubprophylaxe zunahm, eine „stille“ Progression. „Eine verlaufsmodifizierende Therapie unterdrückt offensichtlich erfolgreich die Schübe, also die ‚Gipfel‘ der krankhaften Immunreaktion, sie kann jedoch die Erkrankung nicht heilen und bei einigen Patienten auch das Fortschreiten nicht verhindern“, erklärt PD Dr. Harald Prüß, Neurologe an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Neurowissenschaftler am DZNE Berlin.
Stammzellentransplantation bisher nur letztes Mittel
Eine Stammzellentransplantation dagegen ermöglicht es dem Immunsystem, neu zu starten und alle gegen den Körper gerichteten Fehlprogramme zu löschen. Dem Patienten werden zu Beginn blutbildende Stammzellen entnommen, darauf folgt eine Chemotherapie, die das Knochenmark fast völlig zerstört. Anschließend werden die „gesunden“ Blutstammzellen wieder zugeführt, sodass ein neues Immunsystem aufgebaut werden kann. Die Therapie gilt zwar als vielversprechend, aber auch als risikoreich und verbunden mit Nebenwirkungen. Es kann sein, dass kein neues Immunsystem aufgebaut werden kann und der Patient somit für Erreger besonders angreifbar wird. Aus diesem Grund wird die Stammzellentransplantation bei der MS-Therapie bisher nur als „ultima ratio“ eingesetzt.
Neue Studie lässt auf größere Heilungschancen hoffen
Eine randomisierte, multizentrische Studie zeigt auf, dass die Progressionsrate nach fünf Jahren bei der Stammzellentransplantation deutlich niedriger ausfällt als bei einer medikamentösen Therapie (9,7 Prozent im Vergleich zu 75,3 Prozent). Bei Patienten mit einer Stammzellentransplantation gab es zudem weniger Rückfälle, eine höhere Lebensqualität und einen niedrigeren Grad der Behinderung. Die Toxizität lag höchstens bei Grad 3 und lebensbedrohliche Ereignisse oder Todesfälle traten nicht auf.
Dr. Prüß zieht folgendes Fazit: „Ob die Stammzelltherapie langfristig und bei unterschiedlich betroffenen MS-Patienten die Krankheits- und Behinderungsprogression verhindern kann, muss noch abgewartet werden. Vor dem Hintergrund der aktuellen Studienlage sollte die Stammzelltransplantation allerdings häufiger als bisher im klinischen Alltag bei ausgewählten Betroffenen zum Einsatz kommen, zumal sie in erfahrenen Zentren mittlerweile mit einer relativ geringen Komplikationsrate einhergeht.“
- Montalban X, Arnold DL, Weber MS et al. Placebo-Controlled Trial of an Oral BTK Inhibitor in Multiple Sclerosis. N Engl J Med 2019 Jun 20; 380 (25): 2406-17
- Cree BA, Gourraud PA, Oksenberg JR, et al. Long-term evolution of multiple sclerosis disability in the treatment era. Ann Neurol 2016; 80:499–510
- Cree BAC, Hollenbach JA, Bove R et al. UCSF-MS-EPIC Team. Silent progression in disease activity-free relapsing multiple sclerosis. Ann Neurol 2019 May; 85 (5): 653-66
- Burt RK, Balabanov R, Burman J et al. Effect of Nonmyeloablative Hematopoietic Stem Cell Transplantation vs Continued Disease-Modifying Therapy on Disease Progression in Patients With Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis: A Randomized Clinical Trial. JAMA 2019; 321 (2): 165-174
Quelle: idw/DGN, 27.09.2019
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