Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam

Polio
N. Janz
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In den 30er Jahren wurde die „Eiserne Lunge“ zur künstlichen Beatmung erfunden. © Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald
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Historische Bilder aus dem alten Ägypten lassen bereits Menschen erkennen, die wahrscheinlich an Poliomyelitis erkrankt sind.

Auch Hippokrates (460–370 v. Chr.) und Galen (129–216) erwähnen Klumpfuß-Deformationen an Patienten und geben somit erste anatomische Hinweise auf diese Krankheit. Erst im Jahre 1840 beschrieb Jakob von Heine (1800–1879) die Kinderlähmung mit großer Genauigkeit, ohne genaue Kenntnis über den infektiösen Charakter dieser Ansteckung. Während Edmé Vulpian (1826–1887) und Jean Louis Prévost (1838–1927) 1865 pathologisch morphologische Veränderungen der motorischen Vorderhörner am Rückenmark Erkrankter erkannten und daraufhin Adolf Kußmaul die anatomische Lokalisation in der grauen Substanz des Körpers lokalisiert, manifestiert Adolf von Strümpell Poliomyelitis (griech.: polios = grau; myelos = Mark) als eine Infektionskrankheit.

Obwohl der Poliomyelitiserreger uralt ist, kommt es erst Ende des 18. Jahrhunderts zu gefährlichen epidemieartigen Infektionen und dies vor allem bei Kindern. Irreführend ist dennoch der Begriff „Kinderlähmung“, denn diese Infektionskrankheit beschränkt sich keinesfalls auf bestimmte Altersgruppen, sondern befällt auch Menschen im Erwachsenenalter. Zu den bekanntesten Opfern zählt sicherlich der amerikanische Präsident Theodor Roosevelt (1905–1945).

Meist verläuft die Infektion mild, eher grippig, aber wenn das Virus in das Zentralnervensystem vordringt, kommt es zu Lähmungen und einem Muskelabbau. Warum bei nur einem Prozent der Infizierten Lähmungen auftreten, während der Rest keine Symptome oder nur Fieber bekommt, ist immer noch ein Rätsel. Vermutet werden unterschiedliche bösartige genetische Faktoren des Poliostammes. Weshalb gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Polio zu einem großen Problem wurde, ist ein weiteres Rätsel. Ein Widerspruch in sich ist eine Zunahme einer fäkal-oral übertragenen Krankheit, mit steigendem Wohlstand und verbesserter Hygiene. Wahrscheinlich waren Kinder permanent dem Polio-Virus ausgesetzt und konnten schon bei leichtem Fieber eine lebenslange Immunität aufbauen. Mit steigender Hygiene und einem besseren Gesundheitswesen war die schwächere Form der Krankheit kein Begleiter mehr. Wer jetzt infiziert wurde, hatte keine Abwehrkräfte, weil er nie mit der Krankheit konfrontiert wurde.

Karl Landsteiner (1868–1943), der Entdecker der Blutgruppen, infizierte 1909 Affen mit der Rückenmarksflüssigkeit eines Polio-Opfers. Das Virus konnte erfolgreich auf einen anderen Affen übertragen werden. Dies war nun der Beweis, dass Kinderlähmung ansteckend ist. Während Anfang des 20. Jahrhunderts weltweit unzählige Polioepidemien wüteten, gelang es 1948 John Enders (1897–1985) und Thomas Weller (1915–2008) das Poliovirus im menschlichen Gewebe zu züchten. Doch bis dato gab es immer wieder Hilflosigkeit und ein eher zweckmäßiges Verhalten im Kampf um die Kinderlähmung. Eine Heilung oder Medikamente gibt es bis heute nicht. Viele Patienten mussten den Rest ihres Lebens mit Krücken, einem Korsett oder Beinschienen leben.

Das schlimmste Leid hatten jedoch Patienten mit Atem- und Schluckbeschwerden, deren Leben ständig auf der Kippe stand. So wurde in den 30er Jahren die „Eiserne Lunge“ zur künstlichen Beatmung erfunden. Die „Eiserne Lunge“ ist eine große metallene Röhre, in die sich der Patient legen muss. Durch einen periodischen Wechsel von Über- und Unterdruck führt die bewegte Brustwand zu einer passiven Atmung. Abgedichtet durch eine Halsmanschette schaut ausschließlich der Kopf aus dem Gerät heraus. Patienten der Eisernen Lunge, auch „Responauten“ genannt, mussten oftmals ihr Leben lang in dieser Stahlkammer verweilen. Der entscheidende Fortschritt in der Prophylaxe dieser gefährlichen Krankheit gelang Jonas Salk (1914–1995) mit der Entwicklung eines Totimpfstoffes (mit abgetöteten Viren), der ab 1955 im Westen eingesetzt wurde.

Wenige Jahre später entwickelt Albert Sabin (1906–1993) einen oralen Lebendimpfstoff, der heute als „Schluckimpfung“ weltweit bekannt ist und die Poliomyelitis in den entwickelten Ländern zu einer eher seltenen Krankheit gemacht hat. Ab 1960 führte die DDR eine erfolgreiche Impfkampagne mit dem von Albert Sabin entwickelten Impfstoff aus abgeschwächten Polioviren durch. Erst zwei Jahre später wird auch in Westdeutschland flächendeckend der Sabin-Impfstoff verwendet.

© Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald

Der Erreger der Kinderlähmung ist das Poliomyelitis-Virus. Während die Inkubationszeit drei bis 14 Tage dauert, führt der Inkubationsweg meist durch Fäkalien über eine Kontakt- oder Schmierinfektion. Die Krankheit verläuft in vier Phasen, wobei am Beginn das präparalytische Stadium mit grippeähnlichen Symptomen steht. Hinzu kommen Anzeichen meningialer Symptome, wie z.B. Nackensteifheit, worauf sich dann ein Lähmungsstadium anschließen kann. Es können asymmetrische, schlaffe Lähmungen der Extremitäten auftreten, die sich verschieden stark ausprägen und unterschiedlich lokalisiert sein können.

Sehr häufig tritt eine totale Lähmung der unteren Extremitäten auf, wobei die Sehnenreflexe der Betroffenen erlöschen, jedoch die Sensibilität der Haut nicht beeinträchtigt ist. Gelegentlich greifen die Lähmungen das Atemzentrum an, es können Hirnhautentzündungsverläufe auftreten oder es kommt zur „zerebralen Kinderlähmung“, wobei die Krankheit vor allem mit Benommenheit oder spastischen Krämpfen einhergeht. Das Reparationsstadium ist die dritte Phase, die meist zur Rückbildung der Lähmungen führt, welche sogar ganz oder teilweise verschwinden können. Es folgt die vierte Phase, das dystropische Stadium, in der sich die Dauerfolgen der Infektion zeigen, nämlich Skelettveränderungen, das Zurückbleiben des Knochenwachstums oder atrophische Lähmungen.

Am Anfang ist eine Differenzialdiagnose schwierig, da die ersten Symptome einer Grippe ähneln. Erst mit dem Auftreten der Lähmungen zeigt sich das typische Krankheitsbild. Die Erkrankung ist meldepflichtig bei einem Verdacht, einer Erkrankung oder dem Tod. Die Labordiagnostik beginnt mit einer Schnelldiagnose und anschließender genetischer Sequenzierung. Ferner lassen sich durch den Virus gebildete Antikörper nachweisen. In vielen Ländern gilt Polio offiziell als ausgerottet, nur in Asien und Zentralafrika kommt es noch zu Fällen. Die WHO reagiert immer wieder mit intensiven Impfprogrammen.

Literatur

1. Weltpoliotag: www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2015/Ausgaben/43_15.pdf

2. Bundesverband Polomyelitis: www.polio-selbsthilfe.de/willkommen

3. Werbung des ARD um 1985 Schluckimpfung ist süß Kinderlähmung ist grausam: http//www.youtube.com/watch

N. Janz (MTLA)
Hövelnstraße 5
23566 Lübeck

Entnommen aus MTA Dialog 4/2016

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