Laut Statista wurden 2020 in deutschen Krankenhäusern 7.355 Fälle von Magersucht diagnostiziert. Der Alltag von Menschen mit Magersucht ist geprägt von der Angst vor Gewichtszunahme und den Maßnahmen, eine Zunahme zu verhindern. Entsprechend schwierig ist es für die Betroffenen, die medizinisch dringend geratene Gewichtszunahme zu erreichen. Wissenschaftlerinnen der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen und des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme haben nun ein Virtual Reality Tool entwickelt, mit dem Betroffene sich dem gefürchteten Szenario stellen können.
Klassische Motivationstechniken funktionieren oft nicht so gut
Aktuell wurden die ersten Studienergebnisse publiziert. Sie deuten darauf hin, dass die wiederholte virtuelle Darstellung mit gesundem Körpergewicht Personen mit Magersucht hilft, ihre Angst vor Zunahme zu reduzieren. „Gewicht zuzunehmen ist gerade am Anfang das wichtigste Ziel in der Behandlung von Magersucht, aber für die Betroffenen ist es auch eine maximale Herausforderung“, erklärt Dr. Simone Behrens, Psychotherapeutin und Projektleiterin. Mit dem Projekt möchte sie den Betroffenen helfen, hilfreiche Strategien im Umgang mit einem gesunden Körpergewicht zu erarbeiten. „In der Umsetzung ist das bisher sehr schwierig, denn die meisten Patientinnen und Patienten sind exzellent darin geworden, eine Zunahme zu verhindern. Sie können sich ein Leben als normalgewichtige Person, die nicht mehr explizit über Essen oder ihren Körper nachdenkt, gar nicht vorstellen. Klassische Motivationstechniken funktionieren deswegen oft nicht so gut.“
Grenzen der ‚klassischen‘ Körpertherapie durchbrechen
Die jetzt entwickelte Virtual Reality Umgebung ermöglicht es von Magersucht betroffenen Menschen, schon früh im Behandlungsverlauf auszuprobieren, wie es ihnen mit einem gesunden Körpergewicht ergehen könnte. In der Virtual Reality Umgebung können sie ein beliebiges Körpergewicht anschauen, und zwar sowohl aus der Ich-Perspektive als auch in einem virtuellen Spiegel. „Die Virtual Reality Umgebung ermöglicht therapeutisches Arbeiten mit und an einer buchstäblich erweiterten Realität, und durchbricht damit Grenzen der ‚klassischen‘ Körpertherapie“, betont Prof. Katrin Giel, die die Arbeitsgruppe Translationale Psychotherapieforschung leitet.
Digitales Körpermodell basiert auf tausenden Körperscans
Während Virtual Reality oft raumfüllende Installationen nutzt, ist der neu entwickelte Aufbau portabel und binnen zehn Minuten einsatzbereit. Eine Besonderheit ist, dass der gezeigte virtuelle Körper biometrisch akkurate Proportionen hat, erläutert Simone Behrens. „Digitale Menschen, etwa in Computerspielen, sehen oft unnatürlich aus, und man kann ihr Gewicht allenfalls erraten“. Sie kooperiert daher eng mit Prof. Michael J. Black, Direktor der Abteilung für Perzeptive Systeme am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen. Das in seiner Forschungsgruppe entwickelte digitale Körpermodell basiert auf tausenden Körperscans. Die Körper, die so generiert werden, sind nicht nur biometrisch plausibel. „Wir können auch die Körpergröße und das Gewicht individuell auf die jeweilige Patientin oder den Patienten abstimmen“, so Behrens.
24 Patientinnen mit Magersucht untersucht
Für die klinische Pilotstudie haben Behrens und ihr Team 24 Patientinnen mit Magersucht untersucht, die aktuell in stationärer oder ambulanter Behandlung waren. Nach ausführlicher Vorbesprechung folgten vier Sitzungen zu je 30 Minuten, in denen die Patientinnen den gesunden virtuellen Körper zu betrachten. „Was genau am gesunden Gewicht schwierig ist, ist individuell sehr unterschiedlich“, erklärt Behrens. „Wir haben unseren Studienteilnehmerinnen deswegen bewusst wenig Vorgaben gemacht, wie sie mit diesem Eindruck umgehen sollten. Unsere Rolle bestand vor allem darin, zuzuhören und die Auseinandersetzung mit dem gesunden Gewicht zu begleiten.“
Studienteilnehmerinnen reagierten sehr unterschiedlich
Tatsächlich reagierten die Studienteilnehmerinnen sehr unterschiedlich: knapp die Hälfte berichtete von hoher Anspannung, die rasch nachließ. Etwa ein Drittel reagierte zunächst mit geringer Anspannung, die sich aber steigerte, je mehr sie sich auf die Situation einließen. Manche Teilnehmerinnen schließlich erlebten den Anblick gar nicht als unangenehm. „Interessanterweise haben allerdings fast alle Patientinnen rückgemeldet, dass sie die virtuelle Darstellung als sehr hilfreich für ihre persönliche Genesung erlebt haben“, erläutert Projektleiterin Behrens. An diesen Ergebnissen möchte die Arbeitsgruppe nun anknüpfen und im nächsten Schritt Mechanismen während der virtuellen Körperexposition genauer untersuchen.
Hier gibt es ein Video zum Thema.
Quelle: idw/Uniklinikum Tübingen
Artikel teilen