Hochgerechnet wären rund 220.000 Jungen und Mädchen von Mediensucht betroffen, was im Vergleich zu 2019 einen Anstieg um 52 Prozent bedeutet. Das zeigen Ergebnisse einer gemeinsamen Längsschnittuntersuchung der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Die Studie fragte in bundesweit 1.200 Familien mehrfach die digitale Mediennutzung von Kindern, Jugendlichen und Eltern ab. DAK-Chef Andreas Storm fordert Konsequenzen in der Gesundheitspolitik und plädiert für eine Präventionsoffensive zur Medienkompetenz.
Laut Studie hängt der Anstieg der Mediensucht eng mit längeren Nutzungszeiten zusammen. Beim Gaming beträgt die durchschnittliche Spielzeit an einem Werktag jetzt 109 Minuten. Das sind 31 Prozent mehr als vor Corona. Für die Untersuchung der DAK-Gesundheit und des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am UKE hatte das Forsa-Institut Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern zu vier Messzeitpunkten befragt: Im September 2019, im April 2020, im November 2020 und im Mai 2021. Während vor der Pandemie 2,7 Prozent der Befragten ein pathologisches Spielverhalten zeigten, sind es jetzt 4,1 Prozent. Jungen sind mit 3,2 Prozent deutlich häufiger betroffen als Mädchen mit 0,9 Prozent.
Auch bei Social Media steigt die Mediensucht deutlich an
Laut DAK-Studie steigt wie beim Gaming auch bei Social Media die Mediensucht deutlich an. Hier wuchs der Anteil der pathologischen Nutzung seit 2019 von 3,2 auf 4,6 Prozent. Das ist ein Anstieg von knapp 44 Prozent und entspricht nun fast 250.000 Betroffenen. Auch hier sind Jungen mit 3,1 Prozent doppelt so oft abhängig wie Mädchen (1,5 Prozent). „Die problematische Nutzung digitaler Spiele und sozialer Medien hat unter der Coronapandemie signifikant zugenommen“, sagt Prof. Rainer Thomasius, Studienleiter und Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kinder- und Jugendalters am UKE Hamburg.
„Der Anstieg der Mediensucht ist vor allem auf die wachsende Zahl pathologischer Nutzer unter den Jungen zurückzuführen. Auffällig ist auch der Anteil der Betroffenen bei den 10- bis 14-Jährigen. Digitale Medien waren und sind für Kinder und Jugendliche weiterhin ein relevantes Mittel zum Umgang mit herausfordernden Situationen. Und dazu zählt auch die Coronapandemie mit ihren vielen einschränkenden Maßnahmen.“
Kontrollverlust mit weitreichenden Folgen
Nach Einschätzung des Suchtexperten führt eine exzessive Mediennutzung oft zu Kontrollverlust mit weitreichenden Folgen. „Da persönliche, familiäre und schulische Ziele in den Hintergrund treten, werden alterstypische Entwicklungsaufgaben nicht angemessen gelöst“, erklärt Prof. Thomasius. „Ein Stillstand in der psychosozialen Reifung ist die Folge. Die Ergebnisse unserer Studie machen einmal mehr deutlich, wie wichtig Präventions- und Therapieangebote für Kinder und Eltern sind.“
Während im September 2019 Jugendliche an einem durchschnittlichen Wochentag 83 Minuten mit digitalen Spielen verbrachten, waren es während des ersten Lockdowns im April 2020 ganze 132 Minuten täglich – der Höchstwert der gesamten Pandemiezeit. Im Mai 2021 gingen die Nutzungszeiten auf 109 Minuten zurück. Sie liegen damit zwar niedriger als zuvor, jedoch immer noch signifikant höher als vor der Coronapandemie. Auch die Zeiten, die Kinder und Jugendliche mit sozialen Medien verbringen, liegen aktuell mit 139 Minuten wochentags deutlich höher. Im November 2019 verbrachten Mädchen und Jungen werktags 116 Minuten mit Social Media. „Auch nach eineinhalb Jahren Pandemie und deutlichen Lockerungen der Kontaktbeschränkungen liegen die durchschnittlichen medialen Nutzungszeiten nach wie vor über den Werten vor Corona“, sagt Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte.
Keinerlei Regeln zu Art und Dauer der Nutzung digitaler Medien
„Gerade für Kinder und Jugendliche mit bereits davor riskanter Mediennutzung waren die Lockdowns ein erheblicher gesundheitlicher Gefährdungsfaktor, der den Übergang in eine pathologische Mediennutzung quasi katalysiert hat. Es ist zu befürchten, dass sich diese Fehlentwicklung auch nach Ende der Pandemie nicht einfach wird vollständig rückabwickeln lassen, zumal Eltern ihren Einfluss über klare Medienregeln in der Familie der Situation nicht angepasst haben.“
Laut DAK-Studie stellt rund die Hälfte aller Eltern keinerlei Regeln zu Art und Dauer der Nutzung digitaler Medien auf. Dieser Wert änderte sich auch im Verlauf der Pandemie kaum. Mit 73 Prozent gab die überwiegende Mehrheit der befragten Kinder und Jugendlichen an, durch Social Media und Gaming ihre sozialen Kontakte aufrechterhalten zu haben. 71 Prozent wollen Langeweile bekämpfen - ein Drittel der Jungen und Mädchen Stress abbauen oder Sorgen vergessen. Als Antwort auf die steigende Mediensucht verstärken die DAK-Gesundheit gemeinsam mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) die Prävention durch ein Pilotprojekt.
Ein spezielles Mediensucht-Screening
Seit Oktober 2020 gibt es bei 12- bis 17-Jährigen eine neue zusätzliche Vorsorgeuntersuchung, die das Mediennutzungsverhalten ins Visier nimmt. In Bremen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen können rund 70.000 Jungen und Mädchen die Früherkennung ergänzend zur J1 und J2 nutzen. Insgesamt bieten in diesen Ländern mehr als 1.200 Kinderärztinnen und Kinderärzte ein spezielles Mediensucht-Screening für Versicherte der DAK-Gesundheit an. Grundlage ist die sogenannte GADIS-A-Skala (Gaming Disorder Scale for Adolescents), die von Suchtforschern des UKE Hamburg entwickelt wurde und jetzt erstmals in der Praxis eingesetzt wird.
Darüber hinaus bietet die DAK-Gesundheit gemeinsam mit der Computersuchthilfe Hamburg eine Online-Anlaufstelle Mediensucht an. Diese richtet sich an Kinder und Jugendliche, die ein problematisches Online-Nutzungsverhalten haben, sowie deren Eltern. Auf www.computersuchthilfe.info erhalten Betroffene und deren Angehörige Informationen und Hilfestellungen rund um die Themen Online-, Gaming- und Social-Media-Sucht. Das kostenlose DAK-Angebot ist offen für Versicherte aller Krankenkassen.
Quelle: DAK, 04.11.2021
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