Auf die Ausbreitung des SARS-CoV-2 Anfang des Jahres 2020 reagierten Regierungen weltweit mit Ausgangs-, Kontaktsperren und Quarantäne. Ad hoc-Studien berichteten von Depressionen und Angstzuständen in Zusammenhang mit psychischen Folgen des Lockdown auf die Bevölkerung. Experten und Medien griffen die Nachricht auf, sodass der Eindruck entstand, dass der Lockdown die meisten Menschen völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Eine Studie der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Frankfurt, die mit Mainzer Kollegen der Universitätsmedizin und des Leibniz-Instituts entstanden ist, kann diese These nicht bestätigen.
„Unsere Befragungen haben gezeigt, dass die meisten Menschen hierzulande mit den Auswirkungen des Lockdown psychisch besser zurechtgekommen sind, als wir erwartet haben“, meint Prof. Andreas Reif. Weil sich die Forscher bereits seit Jahren mit der Befindlichkeit der deutschen Bevölkerung befassen, konnten sie Daten vor und während des Lockdown vergleichen. Die Ergebnisse werden in der Fachzeitschrift World Psychiatry publiziert (in press).
Verringerter Alltagsstress
Seit Februar 2017 erhebt das Forscherteam Daten über Stressfaktoren in einer Probandengruppe mit mehr als 500 Teilnehmern. Die sogenannte LORA-Studie (Longitudinal Resilience Assessment) ist im Rhein-Main-Gebiet angesiedelt, speziell in Frankfurt und Mainz, und wird in Zusammenarbeit mit der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz und dem Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz durchgeführt. Die Teilnehmer werden alle drei Monate per Online-Monitoring und strukturierten Fragebögen nach ihren sogenannten Mikro- und Makrostressfaktoren befragt. Mit Beginn des Lockdown in Deutschland verkürzten die Forscher den Turnus der Befragung auf wöchentlich.
Die Wissenschaftler stellten fest, dass sich der Alltagsstress der Probanden (18 bis 50 Jahre) im Vergleich zu vor dem Lockdown deutlich verringerte. Fehlende Stressfaktoren wie das Pendeln zur Arbeit, soziale Verpflichtungen, Zeitdruck und eine geringere Arbeitsbelastung sorgten offenbar für einen Anstieg der mentalen Gesundheit. „Unsere vergleichenden Studien kommen zu dem Ergebnis, dass der Lockdown nicht per se negative Auswirkungen auf die Gesundheit hatte“, erklärt Prof. Reif.
Neue Stressfaktoren nach dem Lockdown
Er und sein Team identifizierten unter den Teilnehmern drei Gruppen: die adaptive Gruppe, deren Stresslevel sich zunächst erhöhte und dann zur Ausgangsbasis zurückkehrte; die anfällige Gruppe, bei der sich der Zustand erst verbesserte und dann signifikant verschlechterte, und die stabile Gruppe, deren psychische Gesundheit gleichblieb oder sich sogar verbesserte. Die letzte Gruppe ist mit fast 84 Prozent die größte. Die Mehrheit der Studienteilnehmer kam mit den psychischen Konsequenzen der Pandemiemaßnahmen also gut zurecht. Nur eine Minderheit reagierte mit einem hohen Stresslevel oder psychischen Problemen.
In der Publikation ihrer Studie fokussieren sich die Wissenschaftler auf die ersten acht Wochen der wöchentlichen Befragungen: zwischen 31. März (beziehungsweise 1. April 2020) bis zum Ende des Lockdown in Deutschland im späten Mai. Danach sahen sich viele Menschen mit neuen Stressfaktoren konfrontiert, beispielsweise der Angst vor Arbeitslosigkeit. Die psychischen Auswirkungen der Nach-Lockdown-Zeit waren nicht Gegenstand der Studie.
Darstellung der positiven Aspekte des Lockdown
Aus den Forschungserkenntnissen leiten die Forscher, auch im Hinblick auf künftige ähnliche Szenarien, Handlungsempfehlungen ab. „Statt genereller psychischer Hilfsangebote ist es sinnvoll, anfällige Personen rechtzeitig zu identifizieren und die Ressourcen und Hilfsmaßnahmen auf sie zuzuschneiden“, empfiehlt Prof. Reif. Auch die Medien können mit der Darstellung der positiven Aspekte des Lockdown – Entschleunigung und mehr Zeit für persönliche Entwicklung – zur Stabilisierung psychisch anfälliger Personen in der Bevölkerung beitragen. Die LORA-Studie soll bis mindestens Mitte des Jahres 2021 weitergeführt werden.
Quelle: Uniklinikum Frankfurt, 05.11.2020
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