COVID-19-Studie Tirschenreuth: Hohe Dunkelziffer vor allem bei Jüngeren

Zwischenfazit: „Prospektive COVID-19-Kohorte Tirschenreuth“
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Auftakt der Studie im Mai 2020
Prof. Dr. Klaus Überla (Universitätsklinikum Erlangen), Wissenschaftsminister Bernd Sibler und Prof. Dr. Ralf Wagner (Universitätsklinikum Regensburg) im Rahmen der Pressekonferenz zum Auftakt der Studie im Mai 2020 am UKR. © Altrofoto.de
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Wissenschaftler/-innen der Universitätskliniken Regensburg und Erlangen haben Zwischenergebnisse der im April letzten Jahres in Auftrag gegebenen Studie „Prospektive COVID-19-Kohorte Tirschenreuth“ (TiKoCo19) bekanntgegeben. Mit einem Faktor 12 war die Dunkelziffer am höchsten in der Gruppe der 14-20-Jährigen.

Tirschenreuth (nördliche Oberpfalz, Bayern) war mit mehr als 1.500 registrierten SARS-CoV-2 Infizierten pro 100.000 Einwohner bis Herbst 2020 der am stärksten von der ersten Coronawelle betroffene Landkreis in ganz Deutschland – deutlich stärker als der lokalisierte Ausbruch in der Gemeinde Gangelt im Landkreis Heinsberg (Nordrhein-Westfahlen). Diese im Frühjahr 2020 auf der Grundlage der damals praktizierten Teststrategie für den Landkreis Tirschenreuth ermittelten Fallzahlen und die daraus abgeleitete Quote an Todesfällen (Case Fatality Ratio, CFR) von mehr als elf Prozent führten zu einer beachtlichen medialen Aufmerksamkeit.

Durchführung einer Seroprävalenz-Studie

Die beteiligten Wissenschaftler um die beiden Studienleiter, Professor Dr. Ralf Wagner (Universitätsklinikum Regensburg, UKR) und Professor Dr. Klaus Überla (Universitätsklinikum Erlangen), haben es sich zum Ziel gesetzt, in einer zufälligen populationsbasierten Stichprobe den Anteil der Infizierten in der Bevölkerung des Landkreises Tirschenreuth durch eine Seroprävalenz-Studie zu ermitteln. Dabei werden bei allen Personen der Stichprobe das Vorhandensein von SARS-CoV-2-Antikörpern im Blutserum gemessen und daraus die Häufigkeit von stattgehabten Infektionen (Prävalenz) bestimmt. Insbesondere sollte auch der mögliche Einfluss sozio-demographischer Determinanten und Lebensstil-Faktoren erfasst werden.

Folgeuntersuchung geplant

Neben der Finanzierung durch das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (StMWK) wurde die Studie auch von einem interdisziplinären Studienteam unterstützt, an dem Experten aus den Fachbereichen Virologie, Immunologie, Epidemiologie und Statistik, zahlreiche Studienassistenten und Labormitarbeiter sowie ein Team des Bayerischen Roten Kreuzes beteiligt waren. Nun liegen finale Ergebnisse dieser Basisuntersuchung aus dem Juli 2020 vor. Die Studie ist aber angelegt, um auch qualitative und quantitative Veränderungen in der Antikörper-Antwort im Zeitverlauf zu untersuchen; eine Folgeuntersuchung fand bereits im November 2020 statt, und eine zweite Folgeuntersuchung ist für Ende April 2021 angesetzt.

Ergebnisse der Basis-Querschnittsuntersuchung

Die Bereitschaft der Bevölkerung des Landkreises, an der Studie teilzunehmen, war überwältigend. Von den ca. 6.600 eingeladenen Bürgerinnen und Bürgern (14 Jahre und älter) des Landkreises Tirschenreuth haben sich mehr als 4.200 Freiwillige (64 Prozent) zur Teilnahme bereit erklärt. Die Studie umfasst eine Blutabnahme an einem der drei Blutabnahmezentren, die Bestimmung von SARS-CoV-2 spezifischen Antikörpern über drei unterschiedliche Testsysteme sowie die Auswertung eines umfassenden Fragebogens zu u.a. Alter, Geschlecht, Wohnsituation, Beruf und Lebensstil-Faktoren.

8,6 Prozent wiesen Antikörper auf

Die Auswertung der Studiendaten und Hochrechnung von der Zufallsstichprobe auf die Bevölkerung 14 Jahre und älter ergab, dass 8,6 Prozent der Tirschenreuther Bevölkerung (14 Jahre und älter) im Juni 2020 Antikörper gegen das SARS-CoV-2 aufwiesen und daher eine Infektion mit diesem Virus durchlaufen hatten. Der Anteil der Antikörper-positiven Bevölkerung war über die unterschiedlichen Altersgruppen hinweg weitgehend vergleichbar. Von den Personen mit registrierter Infektion bis Juni 2020 zeigten 94 Prozent Antikörper in mindestens einem der Antikörpertests. Die drei Antikörpertests zeigten weitgehend vergleichbare Ergebnisse, so die Wissenschaftler.

80 Prozent Infektionen wurden durch damalige Teststrategie nicht erfasst

Das Verhältnis der Antikörper-positiven Personen, bei denen die SARS-CoV-2-Infektion nicht bereits durch das damalige Testen registriert worden war, zu denen mit durch Antikörper in dieser Studie nachgewiesener Infektion lag bei 4:1. In anderen Worten: die Dunkelziffer von Faktor 5 bedeutet, dass 80 Prozent aller Infektionen durch die damalige Teststrategie nicht erfasst wurden. Mit einem Faktor 12 war die Dunkelziffer am höchsten in der Gruppe der 14-20-Jährigen (92 Prozent unerkannter Infektionen) und nahm mit zunehmendem Alter ab bis zu einem Faktor von 1,7 bei den über 85-Jährigen (41 Prozent unerkannter Infektionen).

2,5 Prozent der mit SARS-CoV-2-Infizierten verstorben

Nimmt man die Anwesenheit von SARS-CoV-2-spezifischen Antikörpern als bestmögliche Annäherung an die Anzahl an SARS-CoV-2-Infizierten, dann lässt sich daraus die sogenannte Infection Fatality Ratio (IFR) errechnen, also der Anteil derjenigen, die nach erfolgter Infektion an/mit COVID-19 verstorben sind. Gemittelt über alle Altersgruppen sind demgemäß zwischen Februar und Juni 2020 im Landkreis Tirschenreuth 2,5 Prozent der mit SARS-CoV-2-Infizierten an oder mit der Infektion verstorben.

Bei einer detaillierten Subgruppen-Analyse zeigte sich dabei eine extreme Altersabhängigkeit der an/mit SARS-CoV-2 verstorbenen Personen: Während weniger als 0,5 Prozent der Tirschenreuther unter 60 Jahren und lediglich 1 Prozent der 60- bis 69-Jährigen an/mit SARS-CoV-2 verstarben, stieg die Quote der Verstorbenen nach SARS-CoV-2-Infektion in der Altersgruppe der 70- bis 74- und der 75- bis 79-Jährigen auf 4 bzw. 10 Prozent an und nahm in den höheren Altersgruppen weiter zu.

Bewohner von Alten- und Seniorenheimen mit einbezogen

In den meisten populationsbasierten Studien blieben die Alten- und Seniorenheime unberücksichtigt, und nichtmobile Studienteilnehmer konnten an solchen Studien oft nicht teilnehmen, wenn ein Besuch eines Studienzentrums gefordert war. Ein großer Anteil der im Landkreis Tirschenreuth im Zusammenhang mit COVID-19 stehenden Todesfälle entfiel jedoch auf Bewohner von Senioren- und Pflegeheimen (62 von 138, was 45 Prozent entspricht). In der vorliegenden Studie wurden daher Bewohner von Alten- und Seniorenheimen sowie ältere, in ihrer Mobilität eingeschränkte Teilnehmer in die Zufallsstichprobe einbezogen und, wenn notwendig, von einem mobilen Studienteam in den Senioreneinrichtungen oder zu Hause zur Blutabnahme aufgesucht. Bei der Betrachtung aller über 70-Jährigen einschließlich der Hochbetagten und Bewohnern von Alten- und Seniorenheimen ergab sich eine geschätzte Infection Fatality Ratio von mehr als 13 Prozent. Das bedeutet, dass etwa 13 von 100 mit SARS-CoV-2 infizierten 70-Jährigen an der Infektion verstorben sind. Diese Quote reduzierte sich für die Altersgruppe 70+ auf 7,4 Prozent, wenn die Bewohner aus Alten- und Seniorenheimen aus der Auswertung ausgeschlossen wurden.

Medizinisches Personal mit etwa zweifach höherem Risiko

Bezogen auf die Gesamtbevölkerung von Tirschenreuth reduzierte sich die Infection Fatality Ratio bei Ausschluss der über 70-Jährigen aus Alters- und Seniorenheimen von 2,5 Prozent auf 1,4 Prozent. Das bedeutet, dass von 100 infizierten Personen über 70 Jahre, die zu Hause wohnten, ca. sieben Personen im Zusammenhang der Infektion verstorben sind; unter allen Personen über 14 Jahren, die zu Hause wohnten, ist von 100 Personen ca. eine Person gestorben. Dies altersbezogenen Infection Fatality Ratios passen sehr gut mit statistischen Modellen von Levin und Kollegen (European Journal of Epidemiology, 2020) zusammen.

 

Untersuchungen zum Einfluss des beruflichen Umfeldes auf eine SARS-CoV-2-Infektion zeigten auch, dass medizinisches Personal im Landkreis Tirschenreuth ein etwa zweifach höheres Risiko hatte, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren, als andere Berufsgruppen. Personen, die im Supermarkt arbeiteten, zeigten keine erhöhte Infektionshäufigkeit. Die Studiendaten deuten auch darauf hin, dass Raucher gegenüber Ex-Rauchern oder Nichtrauchern ein etwa dreifach geringeres Risiko aufweisen, Antikörper gegen SARS-CoV-2 entwickelt zu haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass Rauchen per se vor einer SARS-CoV-2-Infektion schützt und darf keinesfalls über die bekannten Gesundheitsrisiken des Rauchens, z.B. für Lungenkrebs und Herzinfarkt, hinwegtäuschen. Als Erklärung für diese Beobachtung kommen verhaltensbedingte Ursachen ebenso in Frage wie immunologische oder zellbiologische Mechanismen, was Gegenstand weiterer Erforschung sein muss.

Priorisierung bei Impfung bestätigt

Die Daten aus der Tirschenreuth-Studie zeigen einen hohen Anteil von damals nicht erkannten Infektionen (Dunkelziffer) insbesondere unter jüngeren Personen sowie den Einfluss des Alters und der Betreuungssituation (Senioren- und Pflegeheime) auf die Quote SARS-CoV-2-assoziierter Todesfälle. Die aktuelle Teststrategie kann sich wohl von der damaligen Teststrategie und damit den erkannten Infektionen unterscheiden. Verbesserte Behandlungsstrategien für aktuell schwer erkrankte COVID-19-Patienten werden auch den Anteil der Versterbenden reduzieren. Nichtsdestotrotz stützen die Ergebnisse die verbesserte Teststrategie bei Jugendlichen sowie die von der ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlene priorisierte Impfung der Bewohner/innen von Alters- und Seniorenheimen, der älteren Bevölkerungsgruppen 70+ sowie des in Pflege- und Heilberufen engagierten Personals.

Nach wie vor SARS-CoV-2-spezifische Antikörper gefunden

In der zweiten Novemberhälfte des vergangenen Jahres wurden 4.174 Personen, die bereits an der Basis-Querschnittsuntersuchung teilgenommen haben, erneut angeschrieben und um eine weitere Blutprobe sowie das Ausfüllen eines Fragebogens gebeten. 3.549 Personen der kontaktierten Tirschenreuther Bürger haben an der zweiten Runde der Studie teilgenommen und rund um Weihnachten ein entsprechendes Testergebnis per Post erhalten. Das entspricht einer Teilnahmequote von hervorragenden 85 Prozent, die alle Erwartungen der beiden Studienleiter übertroffen haben. Eine erste Zwischenauswertung ergab nur eine geringe Anzahl an Neuinfektionen zwischen Juni und November 2020. Bei dem überwiegenden Anteil der im Juni seropositiv getesteten Probanden wurden nach wie vor SARS-CoV-2-spezifische Antikörper gefunden. Als nächstes soll jetzt die weitere Ausbreitung des Virus in der Tirschenreuther Bevölkerung zwischen November 2020 und April 2021 aufgezeichnet werden. In diesem Zusammenhang sollen auch weitere Aussagen über die Nachhaltigkeit der durch Infektion hervorgerufenen Immunantwort getroffen werden.

Dritter Studienabschnitt angekündigt

„Wir sind begeistert von der Mitarbeit der Tirschenreuther Bevölkerung. Ohne deren Beteiligung wäre diese Studie nicht möglich. Auf Grundlage der gewonnenen Ergebnisse und des für die letzten beiden Aprilwochen geplanten dritten Studienabschnittes lassen sich weitreichende Aussagen (i) zur Anzahl neuer Infektionen beispielsweise während der zweiten Welle, die auch Tirschenreuth wieder hart getroffen hat, (ii) zur Langlebigkeit einer nach SARS-CoV-2-Infektion induzierten Antikörperantwort, (iii) zur Häufigkeit von Zweitinfektionen nach einer ausgeheilten Erstinfektion oder (iv) zum Einfluss der Impfung ableiten“, so Prof. Dr. Wagner und Prof. Dr. Überla. „Damit wir das Bild aber entsprechend abrunden können, ist es besonders wichtig, dass alle in diesen Tagen erneut angeschriebenen Bürgerinnen und Bürger des Landkreises, die sich schon im Juni oder November des vergangenen Jahres an der Studie beteiligt haben, den zugesendeten Fragebogen ausfüllen und sich in den beiden letzten Aprilwochen an den in der Einladung genannten Tagen in einem der angegebenen drei Zentren zu einer weiteren Blutabnahme einfinden.“

Literatur:

Ralf Wagner, David Peterhoff, Stephanie Beileke, et al.: Estimates and determinants of SARS-CoV-2 seroprevalence and infection fatality ratio using latent class analysis: the population-based Tirschenreuth study in the hardest-hit German county in spring 2020. Preprint, DOI: doi.org/10.1101/2021.03.29.21254343.

Quelle: idw/Universitätsklinikum Regensburg (UKR)

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