Xogramme: Kreative Ästhetik trifft medizinisches Bild
Wie beschreiben Sie sich selbst?
Ich bin jemand, der zupackt, der Dinge versucht. Ich war nicht sicher, ob ich mit dem Fotografieren, meiner Leidenschaft, jemals meinen Lebensunterhalt verdienen würde – daher begann ich meine Ausbildung als Grafikdesigner und künstlerischer Leiter für Werbegrafik, bevor ich zurück zur Fotografie wechselte. Vier Jahre lernte ich bei dem Star-Fotografen Gered Mankowitz ab 1994, in seinem Old Chapel Studio im Londoner In-Viertel Belsize Park. Seine Schwerpunkte lagen auf Musik und Werbung. Zu meinen tollsten Erinnerungen jener Zeit zählen Foto-Aktionen der Tour von Phil Collins und seiner Band in Tampa/Florida und in der Schweiz für ein Albumcover.
Wie kamen Sie dazu, Röntgenstrahlen für künstlerische Zwecke einzusetzen?
In meiner Zeit im Old Chapel Studio kam ein Freund aus dem Designerumfeld auf mich zu mit der Frage, ob ich ein „enthüllendes“ Bild für ein Albumcover machen könnte. Ich suchte das Gespräch mit dem benachbarten Krankenhaus in Hampstead und traf den Direktor der Radiologie zum Mittagessen. Zur damaligen Zeit entstanden Radiologiebilder in einem analogen Prozess – mit Zelluloid im Format 17 x 14 Zoll. Belichtete Filme enthielten Silber; nicht taugliche, unscharfe Bilder sammelte man in großen Tonnen, um das wertvolle Silber wieder herauszuziehen. Vor meinem inneren Auge öffnete sich mit diesem Ausschussmaterial eine völlig neue, eigene Welt, die die Grenzen der konventionellen Fotografie sprengt. Die Detailtreue der großformatigen Bilder war gewaltig! Spannend war für mich auch, dass Verstärkerfolien mit Phosphorverbindungen vor dem Röntgenfilm platziert werden; die durch die Strahlung zum Abgeben von Licht im sichtbaren Spektrum angeregt werden. Ich sah deutliche Parallelen zwischen Röntgenbildern – X-rays – und konventioneller Fotografie und fing an, mit diesem für mich neuen „unsichtbaren Licht“ zu arbeiten. Ich bin teilweise farbenblind; vor diesem Hintergrund ermöglichte die Röntgenfotografie Graustufenaufnahmen ohne die Herausforderung farblicher Präzision ... und bot mir so die Chance, neue „imaginierte“ Farben zu schaffen. So entstand auf Basis der Röntgenbilder eine neue visuelle Ästhetik.
Welche Botschaft verbirgt sich hinter Ihrer Nutzung von Röntgenbildern?
Röntgenbilder zeigen etwas, das unterhalb der gegenständlichen Oberfläche existiert. Etwas, das weder unser menschliches Auge noch das Auge eines konventionellen Fotografen erfassen kann. Für den Betrachter mag die Botschaft sogar hierüber hinausgehen: Geht es nur um ein Ergebnis veränderter Ästhetik – oder bietet sich hier etwas anderes ... etwas Neues auf der Ebene der Wahrnehmung, der visuellen Sprache, der Darstellung unserer Welt? Im Jahr 2014 führte ich in London eine Ausstellung durch unter dem Titel „EXPOSÉ: Material and Surface“, Material und Oberfläche, um dieses Thema zu erkunden.
Golfer 2010
Welche weiteren Techniken spielen in diesem Kontext eine Rolle?
Es gibt eine traditionelle Fotografiermethode, mit der sich Bilder ohne eine Kamera erzeugen lassen. Man legt Objekte direkt auf die Oberfläche lichtempfindlichen Materials und setzt das Ganze dem Licht aus; so entsteht eine Silhouette des Objekts auf dem Material. Man nennt diese Schattenaufnahmen Fotogramme (bei Man Ray hießen sie Rayographs); diese Aufnahmetechnik zählte auch zu den ersten, die William Fox Talbot einsetzte. Er bezeichnete sie als „photogenic drawings“.
Seit der Entdeckung der Röntgenstrahlung durch Wilhelm Conrad Röntgen können wir „X-ray photograms“, Röntgen-Fotogramme, kreieren (also Skiagramme, Röntgenogramme, Schattenbilder, Radiogramme). Ich wollte diese Herleitung der Kategorisierung aus der Geschichte fortführen und schuf den Begriff „Xogram“ (deutsch: „Xogramme“, wobei „X“ für „unbekannt“ steht sowie griechisch für „heraus“: éxo und „Zeichnung“: gramma).
Meine „Xogramme“ entstehen aus einer Kombination von analoger Aufnahme, chemischer Entwicklung, fotografischen Details und der Interpretation von Farbe. Ich setze meine Leidenschaft für die fotografische Aufnahme um, indem ich unterschiedliche Wellenlängen von „Licht“ einsetze und konventionelle Fotografiertechniken in Röntgenaufnahmen übertrage. Es begeistert mich, wie diese Weiterentwicklung der Bildaufnahmetechnologien Kreativität und das künstlerische Potenzial von Xogrammen voranbringt.
Wen sprechen Sie mit Ihrer Kunst an?
Ich habe beispielsweise für das Royal College of Radiologists vorgetragen – im Rahmen der „Crookshank Lecture“ in London, vor 450 Teilnehmern und mit der traditionellen gravierten Silbermedaille als Anerkennung. Dieses höchstrenommierte Vorlesungsformat führte 1955 der Right Honourable Viscount Crookshank CH zum Gedächtnis an seine Mutter ein. Den Vortragenden ernennt alljährlich der Vorsitzende der Fachgesellschaft – mit der Vorgabe, ein Thema von Interesse für Radiologen zu wählen. Weitere Aktivitäten mit dem Ansatz Kunst beziehungsweise Wissenschaft folgten für Festival-Workshops und öffentliche Ausstellungen – für die breitere Öffentlichkeit.
Wo sehen Sie eine Bedeutung im Kontext der MTRA?
Wir haben beispielsweise – mit dem UK Wellcome Trust – ein Projekt durchgeführt mit dem Ziel, Patienten über Röntgenkunst zu informieren und ihnen Ängste im Zusammenhang mit Bildgebungsterminen zu nehmen. Auch den Dialog der Patienten mit dem Klinikpersonal sollte dieses Projekt verstärken. Bildende, visuelle Kunst kann eine wichtige Rolle dabei spielen, die Patientenerfahrung zu verbessern, und sie hat ein enormes Potenzial, Menschen zu informieren, einzubeziehen und zu beruhigen. Ich denke, dies kann auch für MTRA von Interesse sein.
Worum geht es in Ihrer Rolle als „BIR artist in residence“?
Ich war 2009 der erste, permanente Gastkünstler im Artist-in-Residence-Programm des British Institute of Radiology. Die Einladung kam im Zuge meiner Solo-Ausstellung mit dem Titel „X-perimentalist“ an der Londoner OXO Gallery mit über 8.000 Besuchern. Mit ihr zeigte ich erstmals 40 Xogramme. Mein Auftrag als Artist-in-Residence war, der Öffentlichkeit die Ästhetik der Bilder von Röntgen‧geräten und weiteren Modalitäten zu präsentieren – durch Ausstellungen, Workshops, Vorträge sowie durch BIR-Partnerschaften und weitere Aktivitäten laut dem Royal Charter.
Das BIR wurde übrigens als „The X-ray Society“ am 2. April 1897 ins Leben gerufen und ist somit die älteste Röntgen-Fachgesellschaft der Welt. Ihre offizielle Gründung erfolgte 1924; das Royal Charter erhielt sie 1958 von der britischen Königin. Diese Erfahrung hat mir einen beispiellosen Zugang zur Welt der radiologischen Bildgebung verschafft.
So konnte ich am BIR Erfahrungen mit einer enormen Zahl an bildgebenden Geräten sammeln – darunter MRT, CT, PET, Fluoroskopie, Mammografie und Synchrotron-Röntgen-Radiografie. Nach wie vor nutze ich jedoch am liebsten den 17-x-14-Zoll-Film, wenn das möglich ist – insbesondere für Kunstinstallationen.
Trip the light fantastic 2012
Was betrachten Sie als Ihren größten Erfolg?
Die meisten meiner Arbeiten beziehen Formen des kreativen Experimentierens mit ein – und mit vielen dieser Projekte bin ich selbst sehr zufrieden. Ich hatte und habe auch das große Glück, mit weltbekannten Firmen als Auftraggeber zu arbeiten. Ich zähle zu den größten Erfolgen die iPad-App, die wir zum RSNA 2011 herausbrachten; es gelang uns, Bewegtbild mit Fluoroskopie und Röntgenbildern im Zeitraffer zu verknüpfen. Dies ermöglichte es uns, das Engagement von Kindern zu gewinnen – sie konnten mit dem Wischen eines Fingers rotierende Objekte in sich drehende „Röntgen“-Objekte verwandeln ... ein technisch äußerst befriedigendes Projekt!
Bitte beschreiben Sie einige Ihrer Projekte in Deutschland!
Da ist zum einen ein wichtiger Buchbeitrag. Unter dem Titel „Xo‧gramme – Hugh Turvey und die Röntgenkunst“ erschien er in „The world in perspective“ („Die Welt im Durchblick: Wunder moderner Röntgentechnik“). Er war Thema auf der Buchmesse 2019 bei dem renommierten Wissenschaftsverlag Theiss, unter dem Lektorat von Prof. Dr. Wilfried Rosendahl (Direktor Reiss-Engelhorn-Museen und der rem gGmbH, Direktor Curt-Engelhorn-Zentrum für Kunst- und Kulturgeschichte, Mannheim) und Dr. Uwe Busch, Direktor, Deutsches Röntgen-Museum.
Xogramme sind ferner Teil einer digitalen Dauerausstellung des Deutschen Röntgen-Museums in Remscheid. Gezeigt wurden sie auch in der Radiologie am Theater – Gemeinschaftspraxis für Radiologie, Paderborn. Sie spielen eine Rolle in einem Werbefilm zu Joe Nimble-Schuhen von BÄR. Und zu sechs bahnbrechenden Werbefilmen für Credit Suisse verlieh mir das ITVA Festival (Institute of Technology, Visualisation & AI) einen Award.
Wie wirkt sich die Pandemie auf Sie als Künstler aus?
Wir haben im Auftrag der Londoner Canary Wharf Group eine neue Ausstellung zur Einbindung der Öffentlichkeit geschaffen. Sie wird am Foster & Partners Crossrail Place Roof Garden eingerichtet: Der „Hidden Garden“ ist eine ästhetische, wissenschaftlich basierte Wiedergabe von Flora und Algen; wir setzen Röntgen ein, um die in den Objekten verborgenen architektonischen Strukturen zu visualisieren. Jedes Bild beschäftigt sich mit einem Thema wie Nachhaltigkeit, Habitat, Bestäubern oder Medizin; jede Exponatbeschreibung erläutert jeweils wissenschaftliche, forschungsorientierte beziehungsweise statistische Fakten.
Diese Ausstellung entstand während der Pandemie. COVID-19 hat eine globale Gesundheitskrise verursacht und im Zuge von Lockdowns die Schließung vieler Bereiche der Wirtschaft mit sich gebracht. Daneben führt die Virusausbreitung jedoch – etwa dank reduzierter Mobilität – zu einer Reihe positiver Effekte auf unsere Umwelt. Vielleicht ist dies der richtige Zeitpunkt, um unsere Beziehung zur Natur wieder ins Gleichgewicht zu bringen! – Hauptpartner der Ausstellung ist die Organisation Fauna & Flora International; Algae-UK und die Cambridge Conservation Initiative beteiligen sich ebenfalls ... Röntgenkunst leistet also hier einen Dienst für gesellschaftliche Verantwortung!
Entnommen aus MTA Dialog 4/2021
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